Warum ein Blickwechsel lohnt
Gastkommentar Der Vorstand der Erlacher Höhe Wolfgang Sartorius weiß, dass die Gründe für Klagen sehr relativ sind. Statt zu jammern sollten wir mit Menschlichkeit und Augenmaß gangbare Wege suchen.
Rems-Murr. Kürzlich traf ich einen alten Freund, den ich lange nicht gesehen hatte. Er war erfolgreicher Unternehmer und hat sich mit 60 Jahren zur Ruhe gesetzt, frei von materiellen Sorgen und wie er sagte „pumperlgesund“. Ich hatte Glück, dass er Zeit für ein Gespräch mit mir fand. Denn er war gerade auf dem Weg in die Karibik, wo er gerne die Festtage und ein paar Wochen in der Wärme verbringt. Aber er jammerte und klagte über Strompreis, Inflation und schlechtes Wetter, einfach über alles und jeden. Strömte so viel Pessimismus aus, dass er mir vorkam wie jemand, der Haus und Hof verloren hat, nicht weiß, wo er in der nächsten Nacht schlafen soll, und darüber hinaus mindestens eine lebensgefährliche Krankheit hat, vielleicht auch drei. Ein waschechter Misanthrop.
Keine Frage: Wir leben in herausfordernden Zeiten. Die Krisen, die sich teils überlagern, haben uns allen viel abverlangt, und bisweilen ist die Erschöpfung beinahe mit den Händen zu greifen. Manchen Menschen geht es sehr schlecht, sie sind mit Leid und Krankheit geplagt und dringend auf Hilfe angewiesen. Wer wüsste das besser als die Mitarbeiter und Bewohner der Erlacher Höhe? Aber auch wer nicht von persönlichen Belastungen betroffen ist, wird im Deutschland des Jahres 2023 leicht fündig, wenn er oder sie Gründe zum Klagen sucht.
In einer solchen Zeit tut es gut, sich an einem Blickwechsel zu versuchen. Einfach mal aus einer anderen Perspektive auf das zu schauen, was den Alltag prägt.
Heute Morgen zum Beispiel, um 6 Uhr, nach einer heißen Dusche, nahm ich die Zeitung aus dem Briefkasten. Wieso war das möglich? Weil gestern Abend tüchtige Journalisten rechtzeitig fertig waren, damit die Leute im Druckbetrieb ihren Job machen konnten. Anschließend verteilte ein Transporter die Zeitungsstapel und eine tüchtige Austrägerin steckte das Blatt so frühzeitig in meinen Briefkasten, dass ich beim Frühstück in aller Ruhe Zeitung lesen konnte. Dazu saß ich in unserem beheizten Esszimmer und das elektrische Deckenlicht gab nebst Kerzen die erforderliche Helligkeit.
Auf dem Weg ins Büro hielt ich beim Bäcker an. Eine freundliche Verkäuferin bediente mich umgehend, nach zwei Minuten war mein Vesper gesichert.
Vor einigen Wochen hatte ich ein schmerzhaftes Zahnproblem. Ein Anruf in meiner Zahnarztpraxis genügte und die freundliche Assistentin gab mir am selben Nachmittag einen Termin. Dank fortschrittlicher Behandlungstechnik einschließlich der erforderlichen Medikamente war ich am Abend wieder schmerzfrei und konnte tun, was ich schon länger geplant hatten – mit Freunden zum Pizzaessen gehen.
Vieles funktioniert bestens und erscheint geradezu selbstverständlich
Drei banale Beispiele für vieles, das im Alltag hierzulande bestens funktioniert. Zumeist, ohne dass wir besonders Notiz davon nehmen, weil alles so selbstverständlich scheint. Aber ist es das wirklich? Ist es wirklich selbstverständlich, auf überwiegend guten Straßen zur Arbeit fahren zu können, im Winter zuverlässig von Eis und Schnee geräumt? Wie anders sähe das alles aus, würde ich nicht im reichen, im Westteil des (noch) ziemlich friedlichen Europa leben?
Auch ich hätte mir in den vergangenen Monaten öfter mal gewünscht, der Bundeskanzler hätte zupackender agiert. Aber um nichts in der Welt wollte ich in den Ländern von menschenfeindlichen, narzisstischen Despoten vom Schlage Putins und Erdogans leben. Auch nicht unter einem Faschisten wie Höcke, ganz zu schweigen von Gegenden, in denen mörderische Kriege toben. Natürlich ist es lästig, wenn unser Bundesverfassungsgericht bisweilen die Pläne der Regierung über den Haufen wirft oder andere Gerichte Recht an Stellen setzen, die mir vielleicht gegen den Strich gehen. Aber das sind an erster Stelle Auswirkungen einer funktionierenden Gewaltenteilung in einem demokratischen, sozialen Rechtsstaat, dem es an vielen Stellen sogar gelingt, in seinen Verwaltungsstrukturen die Gleichwürdigkeit aller Menschen zu achten.
„Etwas weniger Schimpfen und dafür mehr Zuversicht halte ich für schöne Ziele“
Mein Befinden – übrigens auch das der Wirtschaft – hat jenseits persönlicher Nöte, die hier in keiner Weise geschmälert werden sollen, sehr viel mit der eigenen Sicht auf die Dinge zu tun: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Deshalb plädiere ich für einen Blickwechsel zum Jahreswechsel. Wenn wir nicht so sehr jammern und klagen über das, was wir uns anders wünschen, sondern mit Menschlichkeit, Augenmaß und Vernunft gangbare Wege suchen, geht vieles leichter. Wenn wir neue Dankbarkeit entwickeln für das scheinbar Selbstverständliche, das alles andere als selbstverständlich ist, verbunden mit einer gewissen Portion Demut, kann das nur guttun. Bei allem persönlich Belastenden den Blick offenhalten für Menschen in existenziellen Notlagen und für Ungerechtigkeiten, die es auch bei uns gibt. Etwas mehr „wir“ und weniger „ich“. Etwas weniger Individualismus und dafür mehr Gemeinsinn. Etwas weniger Schimpfen und dafür mehr Zuversicht halte ich für schöne Ziele für 2024, an denen ich mich mindestens versuchen will. Wenn andere mitmachen, wird das nicht ohne Wirkung bleiben. Das Glas wird dann wieder halb voll sein. Und wahrscheinlich wird es sich im Lauf des Jahres noch weiter füllen.