Tränen trocknen wieder
Warum Weinen die Seele reinigt
Ein Zeichen von Schwäche? Von wegen! Wer weint, zeigt echte Stärke – sogar in der sozialen Kommunikation. Darum sollte man seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Meistens zumindest.
Von Markus Brauer/dpa
In Grimms Märchen heilen Rapunzels Tränen die erblindeten Augen ihres Prinzen und in J.K. Rowlings „Harry Potter“-Reihe haben Phönixtränen eine Heilkraft. Doch wie sieht es in der Realität aus? Kann Weinen wirklich heilen?
„Jein“, sagt Andreas Jähne, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura in Baden-Württemberg. „Man muss unterscheiden zwischen Tränenfluss und Weinen: Wenn uns die Tränen in die Augen schießen, zum Beispiel wenn es windig ist. Dann ist das ein Reflex, also eine Schutzfunktion. Tränen halten das Auge feucht und schützen es vor Fremdkörpern. Dass in den Tränen irgendeine Substanz enthalten ist, die Wunden heilt, ist ein Irrglaube.“
Weinen heilt die Seele
Weinen hingegen ist Ausdruck eines psychischen Vorgangs und hat durchaus positive Effekte auf unsere Gesundheit. „Weinen fördert die Freisetzung von Endorphinen, die als natürliche Schmerzmittel wirken.“ Studien zeigen zudem, das Weinen die Produktion von Immunzellen anregt und den Körper widerstandsfähiger gegen Krankheiten macht, erklärt der Facharzt.
Vor allem für die Seele ist Weinen ein Wundermittel. Das Zulassen von Tränen ermöglicht es uns, negative Emotionen wie Traurigkeit oder Frustration auf gesunde Weise auszudrücken. Schmerzvolle Erinnerungen werden verarbeitet und emotionale Spannung abgebaut. „Weinen kann ein wichtiger Schritt zur emotionalen Heilung sein, da es hilft, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten“, so Jähne.
Weinen schafft soziale Bindungen
Als Baby kommunizieren Menschen hauptsächlich über das Weinen: Es signalisiert anderen, dass man Unterstützung oder Trost braucht. „Weinen, als Ausdruck einer Emotion, tun nur wir Menschen und ist ein Mittel der sozialen Kommunikation“, sagt der Experte.
„Wir teilen dem Gegenüber mit, wie es uns geht.“ So fördert das Weinen soziale Bindungen durch die Freisetzung von Hormonen wie Oxytocin, das oft als „Bindungshormon“bezeichnet wird.
Echte Männer weinen nicht
Stereotype darüber, wer (viel) weint und wer nicht, führen laut Jähne dazu, dass Menschen ihre Tränen unterdrücken. Frauen zeigen eher ihre Emotionen, während Männer oft stark wirken wollen.
Die „Heulsuse“ oder der Spruch „Echte Männer weinen nicht“ sind als Stereotype tief in unserer Gesellschaft verankert. Weinen werde hier oft als Zeichen von Schwäche interpretiert, besonders in Konfliktsituationen, so Jähne. „Wer zu viel weint, wird häufig auch als unreif oder unangemessen wahrgenommen.“
Weinen gehört zur menschlichen Mimik
Weinen (vom germanischen vaitóti) ist ein fundamentaler Ausdruck menschlicher Mimik, bei dem die Emotionen regelrecht aus einem herausfließen und der häufig von einer exzessiven Geräuschkulisse untermalt wird.
Der Begriff Heulsuse wird im Deutschen pejorativ, dass heißt implizit abwertend verwendet. „Die olle Heulsuse fängt wieder an zu flennen.“ Verwandte Wörter sind Jammerlappen, Memme, Mimose und Rühr-mich-nicht-an (englisch: „touch-me-not“).
Als archetypisches Verhaltensmuster ist Weinen eine zentrale Form sozialer Interaktion und Kommunikation. Wer heult, flennt, schluchzt und jammert, der will gehört werden und lechzt nach Aufmerksamkeit. Larmoyanz und Narzissmus sind die Kehrseiten ein und derselben Medaille.
Wie heißt es im Song „Männer weinen nicht“ von Sänger und Ex-Fußballer Adesse: „Männer weinen nicht / sie schrein den Schmerz in sich hinein, / wie sollt es anders sein / Männer weinen nicht.“
Unterdrücktes Weinen kann ungesund sein
Dann Tränen besser unterdrücken? Nein, denn das kann erhebliche negative Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit haben. Jähne macht das mit einem Vergleich deutlich: „Wenn ich ständig das Weinen unterdrücke, ist das wie ein Ball, der unter Wasser gedrückt wird, der irgendwann an die Oberfläche ploppt.“
Ständiges Zurückhalten von Gefühlen und Tränen kann physische Symptome wie Kopfschmerzen und erhöhten Blutdruck hervorrufen oder sogar Herzprobleme verursachen.
Ohne Weinen leidet mentale Gesundheit
Auch die mentale Gesundheit leidet. „Das Nicht-Zulassen von Tränen kann zu einer emotionalen Blockade führen“, betont Jähne. Wer nicht weint, riskiert, emotionale Probleme zu verschärfen. Depressionen oder andere psychische Erkrankungen können eine Folge sein.
Wer daran gewöhnt oder erzogen wurde, nicht zu weinen, bekommt auch soziale Probleme. „Dauerhaftes Unterdrücken von Weinen und anderen Emotionen kann zu emotionaler Kälte, Verlust an Empathie und geringem Mitgefühl führen.“
Wann man besser nicht losheulen sollte
In manchen Situationen aber sollte man das eigene Wasserwerk lieber unter Kontrolle haben, empfiehlt Jähne. Besonders im beruflichen Umfeld könnte Weinen die eigene Glaubwürdigkeit und Autorität infrage stellen. Wenn beispielsweise ein Staatsoberhaupt öffentlich über ein Tierfoto weint, könnte das irritierend wirken.
Auch in zwischenmenschlichen Beziehungen könne Weinen unterschiedlich aufgenommen werden und Missverständnisse hervorrufen, wenn es als manipulative Taktik oder emotionale Überforderung interpretiert wird.
Anleitung zum Weinen
Doch wie und wann weint man dann richtig? „Zuerst sollte man sich bewusst werden, was man fühlt, und diese Gefühle akzeptieren, anstatt sie zu verdrängen“, rät der Experte. Dieser Prozess erfordere Mut, doch „das Zulassen von Gefühlen ist ein gesunder und natürlicher Teil des Lebens“.
Eine sichere und private Umgebung kann laut Jähne hilfreich sein. „Bei Freunden oder Familie fällt es oft leichter, sich zu öffnen und die Tränen fließen zu lassen.“ Emotionale Auslöser wie traurige Musik oder emotionale Filme können aktiv genutzt werden, um Tränen zu lockern. „Auch tiefes und bewusstes Atmen kann helfen, den Körper zu entspannen und emotionalen Stress abzubauen.“
Wer sich lieber mit einem Experten unterhalten möchte, kann sich professionelle Unterstützung holen. „Eine Therapie kann wertvoll sein, um emotionale Blockaden zu erkennen und zu lösen.“