Über die Aktualität eines großen deutschen Theologen

Warum wir uns unbedingt mit Karl Rahner beschäftigen sollten!

Der Jesuit Karl Rahner gilt als der größte deutsche Theologe des 20. Jahrhunderts. 2024 war für die katholische Kirche ein Rahner-Jahr, jährte sich doch zum 120. Mal sein Geburtstag. Rückblick auf der einen bedeutendsten Denker des Christentums.

Karl Rahner war einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Er beeinflusste das Zweite Vatikanische Konzil und kritisierte Fehlentwicklungen in der katholischen Kirche.

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Karl Rahner war einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Er beeinflusste das Zweite Vatikanische Konzil und kritisierte Fehlentwicklungen in der katholischen Kirche.

Von Markus Brauer/dpa

2024 war nicht nur ein Jahr der politischen Höhepunkte und wirtschaftlichen Tiefpunkte, sondern auch ein Jahr wichtiger kirchlicher Ereignisse. Ein Datum ist im Sammelsurium der Geschehnisse „fast“ untergegangen: 2024 war für die Kirche ein „Rahner-Jahr“.

Karl Rahner,der bedeutendste Theologe der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert wurde am 5. März vor 120 Jahren in Freiburg geboren. Zwischen den Zeiten, zwischen dem Ende des alten und dem Beginn des neuen Jahres, ist es auch Zeit für einen Rückblick auf einen der größten (und tiefgläubigen) Denker in der Geschichte der christlichen Theologie.

Natur und Übernatur

Die katholische Theologie hatte lange Zeit zwei Stockwerke:

  • Im Erdgeschoss, der sogenannten natürlichen Theologie, wurde eine rein philosophische Gotteslehre nach Maßstab der Vernunft betrieben.
  • Im Obergeschoss ging es um die sogenannte übernatürliche Offenbarung, aus der verbindliche Glaubenslehren gewonnen wurde.

Doch was haben beide Ebenen miteinander zu tun? Kann die menschliche Natur nicht auch ohne eine göttliche Übernatur glücklich werden?

Gottes Gnade setzt die menschliche Natur voraus

Dieses jahrhundertealte Grundproblem der Glaubenstradition wurde erst von Karl Rahner umfassend und intellektuell auf höchsten Niveau gelöst:

„Gratia supponit naturam“: Gottes Gnade setzt die menschliche Natur als mögliche Adressatin voraus: Diesen Lehrsatz der scholastischen Theologie des Mittealters im Gefolge des Kirchenlehrers Thomas von Aquin (1225-1274) nahm Karl Rahner zum Anlass für eine sogenannte anthropologische Wende.

Rahners sogenannte Transzendentaltheologie fahndet nach den Möglichkeitsbedingungen religiösen Glaubens, die im Menschen selbst verankert sind. Es geht also darum, wie religiöse Erfahrung überhaupt einen Wahrheitsanspruch haben kann. Ein Thema, das in der postmodernen Welt aktueller ist denn je.

Das Nachdenken über Gott soll nicht – wie in der dialektischen Theologie des evangelischen Theologen Karl Barth (1886-1968) – von Gott ausgehen, sondern vom Menschen und seinen Erfahrungen.

Kants Erbe in Rahners Theologie

Nur weil der Mensch in seinem Innersten die Frage und Sehnsucht nach Gott in sich birgt, kann Gottes Wort ihn überhaupt berühren, so Rahners zentrale These. Gemäß der neuzeitlichen Philosophie von René Descartes (1596-1650) und Immanuel Kant (1724-1804) ging Rahner transzendental auf die Verständnisbedingungen des fragenden und erkennenden Subjekts zurück.

Der Begriff transzendental geht auf Kant und sein erkenntnistheoretisches Hauptwerk „Die Kritik der reinen Vernunft“ (1781) zurück. Kant zufolge bezieht sich transzendental im Unterschied zu transzendent (was bedeutet: die Grenzen der Erfahrung und der sinnlich erkennbaren Welt überschreitend) nicht auf Seiendes - also alle Dinge, die existieren - jenseits des Empirischen (des Erfahrbaren), sondern auf die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Erkenntnis von Seiendem – welcher Art auch immer – überhaupt erst möglich ist

Ungeschuldetheit der Gnade: Was bedeutet das?

Was heute als theologische Selbstverständlichkeit erscheint, stand um 1950 noch unter Häresieverdacht der vatikanischen Glaubensbehörde. Denn die Vertreter der neuscholastischen Schulphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts sahen darin einen Angriff auf die „Ungeschuldetheit der Gnade“.

Ihr Argument: Wenn Gott uns Menschen so geschaffen hätte, dass wir existenziell auf die Gnade angewiesen wären, dann wäre Gott verpflichtet, uns seine Gnade auch tatsächlich zu gewähren. Er würde sie uns quasi schulden, was der Allmacht Gottes und dem Wesen der freien göttlichen Gnade widersprechen würde. Genau in diesem Sinne verurteilte Papst Pius XII. (1876-1958) in seiner Enzyklika „Humani Generis“ (1950) die französische Nouvelle Théologie.

  • Zur Info: Die Nouvelle Théologie (französisch: Neue Theologie) war eine Richtung innerhalb der französischen katholischen Theologie seit den 1930er-Jahren. Sie wollte vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Philosophie und in kritischer Auseinandersetzung mit der tradierten Neuscholastik geschichtliches Denken und die biblisch-patristische Tradition  - also die maßgeblichen Lehren der frühen Theologen aus den ersten Jahehunderten des Christentums - stärker in die Theologie einbringen. Ihr wichtigster Vertreter war der französische Jesuit und spätere Kardinal Henri de Lubac (1896-1991).

Übernatürliches Existential und anonyme Christen

Karl Rahner präsentierte nun einen Lösungsvorschlag, der eine steile theologiegeschichtliche Karriere machte. Er argumentierte: Die Hinordnung des Menschen auf die Gemeinschaft mit Gott sei selber schon Gnade. In Anlehnung an die Philosophie Martin Heideggers (1889-1976) sprach der Jesuiten von einem „übernatürlichen Existential“, das jeden Menschen von Grund auf bestimme.

Später baute er diesen Gedanken zur Idee einer transzendentalen Offenbarung Gottes aus. Demnach hat sich Gott nicht erst in der Geschichte der Menschen (Noah, Abraham, Mose, Jesus etc.) selbst offenbart, sondern immer schon in jedem einzelnen Menschen.

Das Nachdenken über Gott soll nicht von Gott ausgehen, sondern vom Menschen und seinen Erfahrungen, lautet Rahners theologisches Credo. Mit diesem Ausgangspunkt setzte der Heidegger-Schüler zu einer Art theologischem Befreiungs- und Rundumschlag an: Gott hat sich immer schon in jedem Menschen offenbart. Und deshalb seien alle Menschen guten Willens „anonyme Christen“, auch wenn sie sich nicht ausdrücklich zum christlichen Glauben bekennen.

Wie kann man heute noch von Gott reden?

Karl Rahner fragt nach der Möglichkeit theologischer Rede im Heute einer säkularisierten und potchristlichen Gesellschaft, wo der Einzelne feststellt, dass sich seine alltäglichen Lebenserfahrungen nicht mehr mit den Aussagen der christlichen Offenbarungsbotschaft decken.

Sein ganzes theologisch-philosophisches Bemühen dient dem Entwurf einer Theologie, die dem Menschen von seinem jetzigen epochalen Selbst- und Weltverständnis her einen Zugang zur Glaubenswirklichkeit verschafft. In seiner sogenannten Transzendentaltheologie sieht Rahner eine Möglichkeit, um den Menschen in ein unmittelbares Verhältnis zum Geglaubten selbst zu bringen.

Epochale Wirkungsgeschichte Rahners

Kritiker warfen Rahner später vor, er habe das Natur-Gnade-Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben und die geschichtliche Offenbarung Gottes in Jesus Christus überflüssig gemacht. Auf dem Weg von Thomas von Aquin zu Immanuel Kant sei er zudem auf halbem Wege stehen geblieben.

Aber alle Einwände und alles Unverständnis der Kritikaster änderten nichts an der epochalen Wirkungsgeschichte des Theologieprofessors, der die katholische Kirche für die moderne Welt öffnete und auf dem II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) zu den wichtigsten Beratern der in Rom versammelten Bischöfe gehörte. Das Konzil stellte ausdrücklich fest, dass das Heil allen Menschen – auch außerhalb der Grenzen der institutionellen Kirche – möglich ist.

Kritiker der Institution Kirche

In seinen späten Jahren wurde Karl Rahner immer mehr zu einem unbequemen Kritiker der kirchlichen Institution. Er beklagte den römischen Zentralismus und die mangelnde Umsetzung der vom Konzil angestoßenen Reformen. Im Jahr 1983 schlug er sogar eine Union von evangelischer und katholischer Kirche vor.

Die dogmatische Einheit im Glauben müsse einer institutionellen Einheit nicht vorausgehen, sondern könne auch umgekehrt von ihr befördert werden. Ein Paukenschlag, auf den nicht nur der Präfekt der Glaubenskongregation, Rahners alter Konzilskollege Joseph Ratzinger (1927-2022) - dem späteren Papst Benedikt XVI. - mit schroffer Ablehnung reagierte.

Die ökumenische Bewegung und viele Reformkatholiken berufen sich dagegen bis heute auf diesen visionären Vorschlag und zitieren dabei auch gerne eine weitere prophetisch-mahnende Äußerung Rahners, der an den Universitäten Innsbruck, Wien, München und Münster lehrte und am 30. März 1984 in Innsbruck starb: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein.“

Info: Karl Rahner

Biografisches Der aus Freiburg stammende Professoren-Sohn Karl Rahner trat mit 18 Jahren als Novize in die „Societas Jesu“ (SJ) ein. Schnell profilierte er sich als scharfsinniger Denker und erregte Anstoß auch in Kreisen etablierter Theologen. Der Mann, der die Kirche kritisierte, weil er sie liebte, studierte Philosophie bei Martin Heidegger in Freiburg. Die Laufbahn als Universitätsprofessor führte Rahner nach Innsbruck, Wien, München und Münster. Dem Vatikan gefiel nicht alles, was er sagte und schrieb, doch Rahner war international zu renommiert und spielte vor, während und vor allem nach dem II. Vatikanischen Konzil in den 1960er und 1970er Jahren eine beachtliche und beachtete Rolle. Seine Bibliografie ist mit mehr als 2000 Titeln ungeheuer umfangreich.

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Erstellt:
26. Dezember 2024, 14:54 Uhr
Aktualisiert:
26. Dezember 2024, 15:09 Uhr

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