Anschläge auf TGV-Strecken
„Was Frankreich befürchtete, ist eingetroffen“
Wenige Stunden vor der olympischen Eröffnungsfeier ist das Netz der französischen TGV-Hochgeschwindigkeitszüge Ziel einer koordinierten Sabotage-Attacke geworden. Die Täter sind noch unbekannt. 800 000 Reisende sind betroffen.
Von Stefan Brändle
Zufall scheint ausgeschlossen: Vor der groß angelegten Eröffnungszeremonie zum Auftakt der 33. olympischen Spiele in Paris hat eine konzertierte Aktion weite Teil des französischen TGV-Netzes lahmgelegt. Vertreter der französischen Bahn SNCF sprachen von einer „massiven Attacke“. An drei Stellen, die hunderte von Kilometern voneinander entfernt sind, wurden in der Nacht auf Freitag gleichzeitig Brände an elektrischen Schaltstationen gelegt. 800 000 Reisende blieben vorerst stecken. Und das bis ins Ausland: In London, das via den Eurostar an das französische TGV-Netz gekoppelt ist, fielen ein Viertel der Züge nach Paris aus. Viele Besucher der abendlichen Olympia-Feier kamen am Freitag zu spät oder gar nicht an.
Am stärksten betroffen war der Atlantik-TGV, der Paris mit westfranzösischen Städten wie La Rochelle oder Bordeaux verbindet. Unterbrochen wurde auch die Linie von Paris in die nordfranzösische Stadt Lille, von wo aus der TGV auch internationale Destinationen wie Brüssel oder London anfährt. Ein Brand kappte ferner die TGV-Verbindung Richtung Metz Ostfrankreich. Laut SNCF-Angaben wurde ein vierter Anschlag auf den Süd-TGV mit Ziel Marseille und Nizza im letzten Moment vereitelt.
Zehntausende französische und ausländische Gäste blieben vorerst in den Bahnhöfen stecken. Zum Olympia-Beginn hatte die SNCF zu den üblichen Verbindungen auch Spezialzüge organisiert. Die SNCF mobilisierte umgehend Reparatur- und Planungsequipen. Sie versuchen, die TGV-Züge auf das normale Schienennetz zu verlagern. Dadurch werden allerdings auch andere als TGV-Züge in Mitleidenschaft gezogen. Die Verspätungen betragen zwischen einer und zwei Stunden, zahlreiche Züge werden ganz gestrichen. Die Staatsbahn informierte die Kunden per SMS und bat sie, die Abreise, wenn möglich, zu „verschieben“ und sich „nicht in die Bahnhöfe zu begeben“. Die Reparaturarbeiten dauern laut SNCF-Vorsteher Jean-Pierre Farandou mindestens bis Sonntagabend.
Keine Spekulation über Motive
Da die Brandanschläge auf die TGV-Infrastruktur simultan erfolgten, sprach der französischen Transportminister Patrice Vergriete von einer „kriminellen Urheberschaft“. Der Vorsatz stehe außer Frage. Über die genauen Motive wollten die verantwortlichen Stellen aber vorerst nicht spekulieren. Die für die olympischen Spiele zuständige Sportministerin Amélie Oudéa-Castéra erklärte in einer ersten Stellungnahme: „Im Visier ist Frankreich.“ Das Erfolgsmodell der TGV-Züge ist auch ein Symbol der französischen Spitzentechnologie.
Die französischen Sicherheitsbehörden hatten seit langem Vorkehrungen gegen Anschläge auf die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele geplant. „Was Frankreich befürchtete, ist eingetroffen“, sagte der Kommentator Daïk Audouit auf dem Fernsehsender France-Info. „Es war bekannt, dass es Gruppen, Personen oder Einheiten auf Frankreich abgesehen haben.“
Russland erbost über Olympia-Ausschluss
Ungeklärt ist die Frage der Täterschaft. Verhaftungen oder Bekennerschreiben gab es vorerst nicht. Die Ermittler verfolgen laut Polizeikreisen zwei Spuren: die Ultralinke und russische Saboteure. Für die erste Spur spricht einiges. Das Vorgehen erinnert an zwei Sabotageaktionen der letzten Monate beim Gare de l’Est in Paris sowie in Marseille. An beiden Orten fiel der Verdacht bereits auf ultralinke Splittergruppen. Sie verfügten womöglich über Komplizen innerhalb der SNCF. Denn auch jetzt wurden die vier neuen Anschlagsorte sehr genau gewählt. In Courtalain südwestlich von Paris lagen sie zum Beispiel an der neuralgischen TGV-Verzweigung zwischen der Bretagne und Bordeaux.
Der Anschlag auf die Linie des Süd-TGV wurde von Bahnarbeitern im letzten Moment verhindert. Ihnen fielen um vier Uhr in der Früh suspekte Gestalten bei einem Bahnschaltwerk in Vergigny (Burgund) auf. Bevor die herbeigerufene Gendarmerie eintraf, „flohen mehrere Personen in einem Lieferwagen“, wie ein Ermittler anonym erklärte. Am Tatort fanden sich mit Benzin gefüllte und mit einem Docht versehene Flaschen.
Die Spur der Ultralinken sorgte am Freitag für den Beginn einer politischen Polemik. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen warf den Behörden und der SNCF vor, sie hätten seit langem die Augen vor den Umtrieben von Linksextremen und Anarchisten verschlossen.
Der frühere Transportminister Dominique Bussereau erklärte vor Journalisten, sicher sei nur, dass „eine Handvoll Anarchos oder Ökos“ nicht vier simultane, strategisch gewählte Brandanschläge organisieren könne. Da sei zweifellos ein eingespieltes, wohl vorbereitetes Team am Werk gewesen.
Das sei auch der Fall, falls eine „ausländische Macht“ dahintersteckte, fügte Bussereau an. Die Ermittler prüfen insbesondere die Möglichkeit russischer Urheber. Die französische Polizei hatte letzthin unabhängig voneinander zwei Russen festgenommen. Bei einem wurden Sprengstoffutensilien gefunden, beim anderen nicht näher bezeichnete Mittel für eine Aktion „von großem Ausmaß“ und mit „gravierenden“ Folgen. Erbost über den Olympia-Ausschluss, fährt das russische Regime seit langem eine breit angelegte Destabilisierungskampagne gegen französische Ziele. Bekannt wurden von Moskau ausgegangene Fake-News über eine angebliche Bettwanzenplage in Paris.
Polizeipräsenz noch mal verstärkt
Aber auch die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft ist am Freitag aktiv geworden. Die französische Polizei hat vor den Pariser Spielen mindestens zwei Islamisten festgenommen, die in der Einvernahme offenbar zugaben, sie hätten gewaltsame Aktionen während der zweiwöchigen Olympia-Zeit geplant. Brandanschläge auf Bahnmaterial ist aber nicht ihre Spezialität.
Der Pariser Polizeipräfekt Laurent Nuñez erklärte am Freitag, er verstärke die Polizeipräsenz in den Bahnhöfen. Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOK), Thomas Bach, sagte in Paris, er habe „volles Vertrauen“ in die französischen Behörden. Die Festfreude rund um die Eröffnungszeremonie hat sich in Frankreich allerdings stark abgekühlt.