Folgen des Klimawandels
Was geschieht, wenn die Klima-Kipppunkte überschritten werden?
In großen Natursystemen der Erde drohen durch die Klimakrise unumkehrbare Veränderungen. In einer neuen Studie haben sich Forscher vier davon angeschaut, darunter auch den für Europa wichtigen Golfstrom.
Von Markus Brauer/Stefan Parsch (dpa)
Sollte die gegenwärtige weltweite Klimapolitik fortgesetzt werden, drohen kritische Elemente des Erdsystems zu kippen. Das ist das Ergebnis von Modellsimulationen, die eine Forschergruppe um Nico Wunderling vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und Tessa Möller vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg (Österreich) durchgeführt hat.
Diese Kipprisiken könnten minimiert werden, wenn die globale Erwärmung rasch umgekehrt werde, mahnen die Experten. Die Studie ist im Fachjournal „Nature Communications“ erschienen.
Achieving net zero greenhouse gas emissions critical to limit climate tipping riskshttps://t.co/zbUaFEVImY#NetZero#Climate — dynaCERT Inc. (@dynaCERT) August 1, 2024
Globale Klima-Kipppunkte
Die Wissenschaftler untersuchten vier zentrale Klima-Kippelemente:
- grönländisches Eisschild
- westantarktisches Eisschild
- atlantische meridionale Umwälzzirkulation (Atlantic Meridional Overturning Circulation/AMOC)
- Regenwald im Amazonas
Beim Konzept der Kipppunkte geht man davon aus, dass einige Teilsysteme des Klimasystems bestimmte kritische Schwellenwerte haben, bei deren Überschreiten es zu starken und teils unaufhaltsamen und unumkehrbaren Veränderungen kommt. Deswegen sollte ein Überschreiten der Kipppunkte unbedingt vermieden werden, warnen die Autoren.
Dominoeffekt des Weltklimas
Unter Kipppunkten versteht man in der Klimaforschung, wenn durch kleine Veränderungen ein Domino-Effekt ausgelöst wird, dessen Folgen unter Umständen nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Werden mehrere Kipppunkte überschritten, besteht zudem das Risiko eines katastrophalen Verlusts der Fähigkeit, Pflanzen für Grundnahrungsmittel anzubauen.
Das Konzept der Kipppunkte und damit verbundene Unsicherheiten werden unter Wissenschaftlern weltweit intensiv und zum Teil konträr diskutiert.
Amazonas als Savanne, Atlantik ohne Golfstrom
In Bezug auf die beiden untersuchten Eisschilde erklären die Wissenschaftler: Werden bei ihnen Kipppunkte erreicht, dann könnten Rückkopplungsprozesse dafür sorgen, dass deren Abschmelzen unvermeidbar wird. Die Folge wäre ein meterhoher Anstieg des Meeresspiegels.
Das Amazonasgebiet in Südamerika wiederum gilt als grüne Lunge des Weltklimas. Falls dort der Kipppunkt erreicht wird, der das Gebiet zu einer Savanne werden lässt, dann beeinflusse dies das gesamte Weltklima negativ.
Teil der AMOC ist der für Europa wichtige Golfstrom. Sollte dieser schwächer werden oder ganz zum Erliegen kommen, würden die Durchschnittstemperaturen in Europa deutlich sinken.
Klimaelemente beeinflussen sich gegenseitig
Für diese vier Klimaelemente, die sich auch gegenseitig beeinflussen, simulierten die Forscher in verschiedenen Szenarien die Entwicklung bis 2300 und 50 000 Jahre in die Zukunft. Weil die detaillierten Erdsystemmodelle derzeit noch nicht in der Lage sind, die komplexen Prozesse und Wechselwirkungen zu berechnen, nutzte das Forscherteam ein stilisiertes Modell, das auch einen Ausblick in die ferne Zukunft zulässt.
„Unsere Berechnungen zeigen: Bleibt es in diesem Jahrhundert beim Stand gegenwärtiger Klimapolitik und bestehender Klimaschutzmaßnahmen, besteht ein hohes Risiko von 45 Prozent, dass mindestens eines der vier untersuchten Elemente bis 2300 kippt“, erläutert Möller.
Die Studie beschäftigt sich auch damit, wie lange der Prozess des Kippens dauert: Beim Golfstrom und dem Amazonas könnte es sich innerhalb von Jahrzehnten vollziehen, bei den Eisschilden könnte das Abschmelzen Tausende Jahre dauern.
Ab 1,5 Grad zählt jedes Zehntel
Mit dem Überschreiten der 1,5-Grad-Marke nimmt das Kipprisiko den Berechnungen zufolge mit jedem Zehntelgrad zu, ab der Zwei-Grad-Marke sogar noch schneller.
„Das ist besorgniserregend, da Szenarien, die sich an der gegenwärtig umgesetzten Klimapolitik orientieren, bis zum Ende dieses Jahrhunderts schätzungsweise zu einer globalen Erwärmung von 2,6 Grad Celsius führen werden“, sagt PIK-Forscherin Annika Ernest Högner, eine der Leitautorinnen.
Die Frage, ob es in den kommenden Jahren und Jahrzehnten gelingt, die Emissionen deutlich zu senken, habe Auswirkungen weit in die Zukunft.
Netto-Null: Ist das überhaupt realistisch?
Am geringsten ist das Kipprisiko in Szenarien, in denen bis 2100 die Treibhausgas-Emissionen in der Nettobilanz auf null reduziert und dauerhaft auf diesem Niveau gehalten werden. E liegt bei weniger als zehn Prozent.
Wenn die Netto-Null nicht dauerhaft eingehalten wird, steigt das Kipprisiko in den kommenden 50 000 Jahren auf mehr als 50 Prozent, teilweise mehr als 70 Prozent.
„Die Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig die Klimaziele des Pariser Abkommens sind, die Erwärmung auch im Falle einer vorübergehenden Überschreitung von 1,5 Grad auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen“, betont Wunderling.
Unsichere zeitliche Prognosen
Unterdessen zeigt eine weitere Studie, über die im Fachblatt „Science Advances“ berichtet wird, dass zeitliche Prognosen zu Kipppunkten mit großen Unsicherheiten behaftet sind. Eine zuverlässige zeitliche Vorhersage sei aus mehreren Gründen schwierig, schreibt das Team um Maya Ben-Yami, die an der Technischen Universität München (TUM) und am PIK arbeitet.
Uncertainties too large to predict tipping times of major Earth system components from historical data | Science Advances https://t.co/0s9zap7kB2 — Joe Scalone (@ScaloneJoe) August 3, 2024
Konkret benennt die Studie drei Quellen, die zu den Unsicherheiten führen:
- Erstens würden für die Vorhersagen für die Zukunft Daten aus der Vergangenheit extrapoliert. Diese Annahmen könnten stark vereinfacht sein und entsprechend zu Fehlern führen.
- Zweitens gebe es nur wenige langfristige, direkte Beobachtungen des Klimasystems.
- Drittens beinhalteten auch die historischen Klimadaten Lücken.
„Wir argumentieren, dass selbst unter der Annahme, dass sich eine bestimmte Erdsystemkomponente einem Kipppunkt nähert, die Unsicherheiten zu groß sind, um Kippzeitpunkte durch Extrapolation historischer Informationen zuverlässig abzuschätzen“, schreiben die Experten.
„Es ist eine überzeugende Demonstration dafür, wie vorsichtig wir sein sollten, wenn wir aus statistischen Methoden genaue zeitliche Abläufe für Kipppunkte ableiten“, resümiert Eleanor Frajka-Williams vom Institut für Meereskunde der Universität Hamburg zusammen, die nicht an der Studie beteiligt war.