Frau in New Yorker U-Bahn angezündet

Was ist der Ursprung menschlicher Agression und Gewalt?

Ein gewaltsamer Tod schockiert New York: Doch der Polizei gelingt ein schneller Erfolg. Warum tun Menschen so etwas? Sind Mord und Totschlag bei uns kulturell bedingt. Oder doch ein biologisches Erbe? Eine Spurensuche in Evolution und Geschichte.

Schädel im Ntarama Genocide Memorial Centre in Ruanda: Hier wurden am 14. April 1995 in der katholischen Kirche von Ntarama rund 5000 Menschen bestialisch abgeschlachtet. Das Genocide Memorial ist eines von sechs offiziellen Orten  in Ruanda, wo des Völkermords an 800.000 bis 1 Million Menschen gedacht wird.he

© Imago/Jörg Boethling

Schädel im Ntarama Genocide Memorial Centre in Ruanda: Hier wurden am 14. April 1995 in der katholischen Kirche von Ntarama rund 5000 Menschen bestialisch abgeschlachtet. Das Genocide Memorial ist eines von sechs offiziellen Orten in Ruanda, wo des Völkermords an 800.000 bis 1 Million Menschen gedacht wird.he

Von Markus Brauer

Eine schlafende Frau ist in der New Yorker U-Bahn in Brand gesetzt worden und kurz darauf gestorben. Der Polizei zufolge war sie in einem Zug der Linie F im Stadtteil Brooklyn unterwegs, als die Tat geschah. Einsatzkräfte löschten die Flammen, doch die Frau wurde noch an Ort und Stelle für tot erklärt.

Ein Polizeisprecher sagte dem TV-Sender CNN, dass nur wenige Stunden später ein tatverdächtiger Mann festgenommen worden sei. Es wurden zunächst keine weiteren Details über das Opfer bekannt, allerdings benutzen während der Winterzeit viele Obdachlose das U-Bahn-System, um der Kälte zu entfliehen. Derzeit sind die Temperaturen in New York mit bis zu minus zehn Grad in der Nacht eisig.

Der erste Mord in der Bibel

„Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot“ (Die Bibel, Altes Testament, 1. Buch Moses, Kapitel 4, Vers 8).

Der erste Mord in der Weltgeschichte wird in der Bibel als Brudermord geschildert. Der Ackermann Kain erschlägt aus Eifersucht, Hass und Neid im Zorn seinen Bruder Abel, der Hirte ist und vor Gott Wohlgefallen gefunden hat.

Mord und Totschlag gibt es schon seit den Anfängen der Menschheit: Schon unter Neandertalern gab es tödliche Fehden, Massaker und sogar Kannibalismus, aber auch der Homo sapiens metzelte Gegner nieder, wie 10.000 Jahre alte Skelettfunde belegen.

Wann wurde die erste Bluttat begangen?

Die Menschen hätten sich schon immer die Köpfe eingeschlagen. „Aber nur individuell und gelegentlich, nicht massenweise und beständig“, sagt der Prähistoriker Harald Meller. „Den ersten belegbaren Mord gab es in der Altsteinzeit, vor etwa 430.000 Jahren, nahe Atapuerca in Spanien.“

Die paläontologische Ausgrabungsstätte von Atapuerca, etwa 20 Kilometer nordöstlich der spanischen Stadt Burgos gelegen, ist eine der bedeutendsten Fundorte von steinzeitlichen Fossilien in Europa. Hier wurden in der Höhle Sima de los Huesos (Knochenhöhle) zahlreiche bedeutende Beweise für die Anwesenheit und Lebensweise von Hominiden vor einer Million Jahren entdeckt.

In der Sima de los Huesos, einem kleinen Gebirgszug nördlich von Ibeas de Juarros in der Provinz Burgos, wurden die Überreste von mindestens 32 Arten der Hominini unterschiedlichen Alters und beiderlei Geschlechts gefunden – so Fossilien von Homo antecessor, Homo heidelbergensis, Homo neanderthalensis und Homo sapiens.Kultur oder Natur?

Woher kommt der menschliche Hang zur Gewalt?

Doch woher stammt dieser menschliche Hang zu Aggression und Gewalt. Und ist er überhaupt rein menschlich? Über diese Frage diskutieren Soziologen, Verhaltensforscher und Philosophen schon seit Jahrhunderten. Während die einen in der Gewalt ein vorwiegend kulturelles Phänomen sehen, führen andere Beispiele für innerartliche Aggression im Tierreich als Beleg für ein stammesgeschichtliches Erbe an.

„Bei vielen Primaten sind Aggressionen zwischen Gruppen und auch Kindesmord häufig“, erklärt José Maria Gómez von der Universität von Granada. „Selbst scheinbar friedfertige Säugetiere wie Hamster und Pferde töten manchmal Individuen ihrer eigenen Art.“ Und von Löwen und anderen in Rudeln lebenden Raubtieren weiß man, dass neue Alphatiere häufig den Nachwuchs ihrer Vorgänger töten.

Mord und Totschlag unter Säugetieren

Ist unsere eigene Neigung zur Gewalt also nur eine Folge des Säugetiers in uns? Gómez hatte in seiner Studie „The phylogenetic roots of human lethal violence“ systematisch vier Millionen Fälle tödlicher innerartlicher Gewalt bei 1024 Säugetierarten aus 137 verschiedenen Familien und 50.000 Jahren Stammesgeschichte ausgewertet. Ergänzend untersuchten sie Fällen von Mord und Totschlag bei 600 verschiedenen menschlichen Populationen – von der Steinzeit bis in die Gegenwart.

Belege für innerartliche Gewalt finden sich in der gesamten Gruppe der Säugetiere. Insgesamt liegt der Durchschnitt der Todesfälle durch tödliche Aggression bei rund 0,3 Prozent, wie der Forscher ermittelte. „Dies spricht dafür, dass tödliche Gewalt unter den Säugetieren zwar insgesamt selten, aber weit verbreitet ist.“

Häufung von Gewalt auf dem Weg zu Primaten

Doch es gibt klare Unterschiede: „Während tödliche Aggression in Gruppen wie den Walen, Fledermäusen und Hasenartigen selten ist, kommt es in anderen häufiger vor, wie beispielsweise den Primaten“, berichtet die Forscher.

Bei diesen Häufungen gibt es einen eindeutigen evolutionären Trend: Je näher die Stammesgeschichte den Primaten kommt, desto höher liegt die Rate der innerartlichen Aggression. Beim gemeinsamen Vorfahren von Nagetieren, Hasen und Primaten lag die Aggressionsrate schon bei 1,1 Prozent, bei den Vorfahren von Primaten und Spitzhörnchen bei 2,3 Prozent und bei den Primaten bei 2,4 Prozent, wie die Wissenschaftler ermittelten. Bei den Menschenaffen sinkt die Gewaltrate dann wieder leicht auf 1,8 Prozent.

Der Mensch – ein besonders gewaltbereiter Ast des Stammbaums

Wie aber sieht es mit dem Menschen aus? Am Ursprung der Menschheit lag das Ausmaß der innerartlichen Gewalt bei zwei Prozent, wie der Forscher ermittelte. Demnach waren unsere steinzeitlichen Vorfahren noch kaum aggressiver als andere Primaten. „Der Mensch hat seine Neigung zur Gewalt stammesgeschichtlich geerbt“, konstatiert Gómez. „Er verdankt dies seiner Position in einem besonders gewaltbereiten Ast des Säugetier-Stammbaums.“

Unser aggressives Erbe ist jedoch sowohl genetisch als auch sozial bedingt: „Das Sozialverhalten und die Territorialität, die wir mit unseren nächsten Verwandten teilen, haben ebenfalls dazu beigetragen“, betont der Wissenschaftler.

Gewaltsprung vor 5000 Jahren

Im Laufe der Kulturgeschichte hat sich dann die Gewaltrate weiter verändert. In der Zeit vor 5000 bis 3000 Jahren stieg sie steil auf 15 bis 30 Prozent an, wie Gómez schreibt. Sie führen dies auf das Aufkommen von Stammesfürsten und größeren Gruppenverbänden zurück. Mit ihnen häuften sich auch Fehden und Kriege.

Erst in der Neuzeit, vor rund 100 Jahren, sind Mord und Totschlag wieder seltener geworden: Heute liegt die Rate tödlicher Gewalt nur noch bei 0,1 Prozent.

Gibt es den „Natural born killer“?

Der Neuropsychologe Thomas Elbert, der an der Universität Konstanz forscht, hat tausende Gespräche mit Mördern und Kindersoldaten in aller Welt geführt. Er sagt: „In bestimmten Situationen kann man jeden Menschen zu einem Verbrecher machen. Aber man kann auch schon zum Verbrecher geboren sein.“

„Es gibt in seltenen Fällen derart schlechte Ausgangsvoraussetzungen. Da ist genetisch schon sehr viel vorbestimmt. Dass heißt nicht, dass es ein Automatismus ist, bei dem man zwangsläufig zum Mörder wird. Aber es kann sehr schlechte Voraussetzungen in der Disposition und für bestimmte Persönlichkeitsentwicklungen geben, die schwer zu beeinflussen sind“, erklärt die Strafrechtlerin und Kriminologin Britta Bannenberg von der Universität Gießen.

Der Mediziner und Humangenetiker Bernhard Horsthemke ist der Ansicht, dass ein komplexes Zusammenspiel von Veranlagung, Umwelteinflüssen, Erziehung und Lebensweise unser Verhalten bestimmt, nicht aber einzelne Gen-Varianten. Die Umwelt hinterlasse in unserem Genom Spuren – wie wir uns ernähren oder ob wir gestresst sind. „Außerdem spielt die Epigenetik mit ihren vorgeburtlichen und frühkindlichen Bahnen eine große Rolle.“

Erbgut oder Umwelt: Was prägt mehr?

Der Mensch ist kein Gen-Roboter. Wie er sich verhält, wie lange er lebt, ob er gesund oder krank, gebrechlich oder kräftig ist, hat er zu einem großen Teil selbst in der Hand. Was also prägt den Homo sapiens stärker: das Erbgut oder die Umwelt?

Fakt ist: Es sind nicht einzelne Gene, sondern eine komplexe Kombination von Genen und Umwelteinflüssen – die sogenannte Gen-Umwelt-Interaktion –, die unser Verhalten prägt. Gene können Umweltfaktoren verstärken oder abschwächen. Umgekehrt können Umweltfaktoren wie Erziehung, soziale Kontakte oder Lebensereignisse die Ausprägung von Genen und ihren Mutationen beeinflussen.

Doch weder genetische Vorbelastungen noch veränderte Hirnfunktionen können erklären, warum ein Mensch zum Soziopathen und zur reißenden Bestie wird. Niemand ist in dem Sinne zum Verbrecher geboren, dass die Biologie für ihn zur Determination und zum Schicksal wird.

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Erstellt:
23. Dezember 2024, 15:14 Uhr
Aktualisiert:
25. Dezember 2024, 14:03 Uhr

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