Inflation in der Türkei

Was kostet ein Ei in der Türkei?

Die offiziellen Inflationszahlen in der Türkei passen nicht zu den Preisen, die die Bürger täglich beim Einkaufen zu bezahlen haben. Nun gibt es Streit um die Daten des staatlichen Statistikamtes. Von Manipulation ist die Rede.

Eierverkauf auf einem Markt im türkischen Izmir

© IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Murat Kocabas

Eierverkauf auf einem Markt im türkischen Izmir

Von Gerd Höhler

Am dritten Tag jeden Monats veröffentlicht das staatliche türkische Statistikamt (Tüik) die Inflationszahlen des Vormonats. Im Juni lagen die Verbraucherpreise laut Tüik 71,6 Prozent über dem Stand des Vorjahres. Aber die Zahlen des Statistikamtes sind umstritten. Die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP hat jetzt Strafantrag gegen die Führung der Behörde gestellt, die direkt dem Staatschef Recep Tayyip Erdogan unterstellt ist. Der Vorwurf: Tüik manipuliere die Inflationsstatistik.

Die CHP sieht darin einen Verstoß gegen Artikel 257 des türkischen Strafgesetzbuches, der Amtsmissbrauch mit bis zu zwei Jahren Haft bedroht. Die stellvertretende CHP-Vorsitzende Gamze Tascier begründete den Strafantrag am vergangenen Freitag vor dem Justizpalast in Ankara. Die Tüik-Zahlen gäben nicht die tatsächliche Inflationsrate wieder und stimmten nicht mit den Erfahrungen der Menschen beim täglichen Einkauf überein, sagte die Politikerin.

Staatsanwalt nimmt keine Ermittlungen auf

Die Staatsanwaltschaft in Ankara teilte jedoch aktuell mit, sie sehe keinen Anlass für Ermittlungen gegen die Leitung der Behörde. Aber es gibt schon lange Zweifel an den offiziellen Inflationszahlen. Die regierungsunabhängige Forschungsgruppe Enag berechnet ebenfalls allmonatlich die Teuerung, kommt aber zu ganz anderen Ergebnissen. Nach ihren Erhebungen betrug die Inflation im Juni 113,08 Prozent.

Nicht nur unabhängige Ökonomen zweifeln die Tüik-Zahlen an. Eine Untersuchung des angesehenen Meinungsforschungsinstituts MetroPoll ergab kürzlich, dass 61,7 Prozent der Befragten die offiziellen Inflationszahlen für zu niedrig halten. Für Misstrauen sorgt vor allem ein Umstand: Tüik macht seit über zwei Jahren keine detaillierten Angaben mehr zu den Preisen der einzelnen Waren und Dienstleistungen, die in die Inflationsberechnung einfließen. Damit werde die Statistik intransparent, sagen Kritiker.

Der Journalist Alaattin Aktas vom Wirtschaftsmagazin Ekonomim will jetzt herausgefunden haben, welche Preise die Behörde bei der Inflationsberechnung zugrunde legt: So setzt Tüik laut Aktas für ein Ei einen Preis von 2,50 Lira an. Das wären umgerechnet sieben Cent. Der tatsächliche Ladenpreis liegt für einen Zwölferkarton Eier bei 70 Lira, was pro Stück etwa 5,80 Lira ausmacht – mehr als das Doppelte des Tüik-Preises. Ein Kilo Zwiebeln kostet laut Tüik 7,76 Lira. Die tatsächlichen Preise auf dem Wochenmarkt liegen zwischen 15 und 30 Lira. Noch absurder: Für einen Besuch bei einem Facharzt setzt Tüik laut Ekonomim 34 Lira an, umgerechnet 95 Cent. Tatsächlich kostet ein Facharztbesuch zwischen 1000 und 4000 Lira.

Korrekte Inflationsdaten sind wichtig für die Menschen

Korrekte offizielle Inflationsdaten sind wichtig für die Menschen, weil danach unter anderem die Erhöhungen der Renten und des Mindestlohns berechnet werden. Nicht nur die Oppositionspartei CHP zweifelt an den Zahlen des Statistikamtes. Auch Gülistan Kilic Kocyigit, Parlamentsabgeordnete der prokurdischen Partei DEM, wundert sich über die von Tüik angesetzten Preise, die es „in der Realität nicht gibt“. Die Abgeordnete appellierte an die staatlichen Statistiker: „Gebt uns bitte die Adresse des Marktes, auf dem ihr diese Preise ermittelt habt, damit wir dort einkaufen können.“

Tüik-Präsident Erhan Cetinkaya verteidigt die Methodik seiner Behörde. Sie erhebe die Inflationsdaten „so, wie es in der ganzen Welt üblich ist“. Staatschef Erdogan berief Cetinkaya im Januar 2022 an die Spitze des Statistikamts. Zuvor hatte er den bisherigen Behördenchef Sait Erdal Dincer gefeuert, wegen zu hoher Inflationszahlen, wie seinerzeit in regierungskritischen Medien gemutmaßt wurde. Damals betrug die Teuerung 36 Prozent – halb so viel wie heute.

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Erstellt:
29. Juli 2024, 08:42 Uhr

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