Studie zu israelischen Ex-Geiseln
Was machen Terror und Geiselhaft mit Menschen?
Israelis erlebten den Terror und die Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, wurden in den Gazastreifen verschleppt. Was macht das gerade mit Kindern? Eine Studie sucht nach Antworten.
Von Markus Brauer/dpa
Israelische Kinderärzte haben in einer Fachzeitschrift eine erste Bestandsaufnahme der körperlichen und seelischen Verfassung ehemaliger Geiseln in Hamas-Gefangenschaft vorgelegt.
Die im Fachmagazin „Acta Paediatrica“ veröffentlichte Studie beruht auf den Untersuchungen von 26 Kindern und Frauen, die nach dem Terrorangriff der islamistischen Hamas am 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen verschleppt wurden und im November und Dezember freikamen.
Noa Argamani (25), Almog Meir Jan (21), Andrey Kozlov (27), and Shlomi Ziv (40) were rescued in a special operation by the IDF, ISA and Israel Police from 2 separate locations in the heart of Nuseirat after being kidnapped by Hamas from the Nova music festival. They are in good… pic.twitter.com/PnkjL4GRQz — Israel Defense Forces (@IDF) June 8, 2024
Gesundheitliche und psychologische Folgen von Geiselnahmen
Für die Wissenschaftler war es Neuland. Die Mehrheit der Studien, die sich mit gesundheitlichen und psychologischen Folgen von Geiselnahmen befassen, beziehen sich auf Soldaten beziehungsweise Männer.
Untersucht wurden in einem Kinderkrankenhaus 19 Kinder und Jugendliche im Alter von zwei bis 18 Jahren sowie sieben Frauen im Alter von 34 bis 78 Jahren. Darunter waren auch sieben Kinder, die ohne Familienangehörige verschleppt und getrennt von anderen Geiseln gefangen genommen waren.
Erheblicher Gewichtsverlust durch Mangelernährung
Gemeinsam war den ehemaligen Geiseln ein erheblicher Gewichtsverlust und schlechter Ernährungszustand, heißt es in der Studie. Dabei war der Gewichtsverlust bei den Erwachsenen größer, auch weil sie mit ihren eigenen Rationen ihre Kinder zusätzlich versorgt hatten.
Während ihrer Gefangenschaft erhielten sie vor allem Reis oder Weißbrot und nur wenig oder gar kein Gemüse, Protein oder Fett. Alle befragten Ex-Geiseln berichteten von schlechten hygienischen Bedingungen und dass sie während ihrer Gefangenschaft wenig Zugang zu Wasser hatten.
Verletzungen und seelische Traumata
Während des Angriffs erlitten 14 der 26 befragten ehemaligen Geiseln Verletzungen, insbesondere durch Schrapnelle verursachte Wunden. Einen besonderen Stellenwert bei der Untersuchung nahmen psychische Traumata ein. Die Mehrzahl der Patienten hatte vor der Gefangennahme den gewaltsamen Tod oder die Entführung von Familienangehörigen erleben müssen.
Alle berichteten von Psycho-Terror, Isolation und Einschüchterung. Vor allem die jüngeren Kinder litten bei der Aufnahme im Krankenhaus unter Albträumen und zeigten sich verschüchtert. Erst nach Tagen begannen sie Heranwachsenden, die in der Gefangenschaft nur im Flüsterton sprechen durften, wieder in normaler Lautstärke zu reden, schreiben die Autoren.
Die Untersuchung könne nur eine erste Bestandsaufnahme sein, heißt es. Weitere Untersuchungen zu den langfristigen körperlichen und seelischen Folgen der Gefangenschaft seien notwendig.
Folgen von traumatisierenden Erfahrungen
Das Erleben oder Beobachten eines traumatischen Ereignisses kann der Seele große Verletzungen zufügen. Die Symptome dieser Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS, englisch: Post traumatic stress disorder/PTSD) können unmittelbar nach dem traumatischen Ereignis auftreten oder erst Monate oder sogar Jahre später beginnen und das tägliche Leben erheblich beeinträchtigen.
Psychologische Therapien von PTBS
- Tiefenpsychologie: Tiefenpsychologisch wird nach den Auswirkungen von Traumatisierungen auf das Unbewusste gesucht. In 100 und mehr Einzelsitzungen sollen tief verborgene und verdrängte Erlebnisse hervorgeholt, thematisiert und so verarbeitet werden.
- Imaginative Verfahren: Dabei werden tiefere Schichten der Seele, die im Alltag ausgeblendet werden, durch innere Bilder und Träume hervorgeholt. Dies soll letztlich zu einer psychisch-bewussten und tieferen Ebene der Verarbeitung führen.
- Narrative Verfahren: Hierbei geht es darum, dass traumatisierte Menschen ihren inneren Drang ausleben können, verlorene, isolierte oder verdrängte Traumata nachzuerzählen. Durch die Schilderung (Narration) der persönlichen Lebensgeschichte versucht man einen Sinn und Zusammenhang in den Erlebnissen zu erkennen.
- Gestalttherapie: Die Gestalttherapie ist eine psychotherapeutische Methode, um ganzheitlich (integrativ) Körper, Geist und Seele an der Trauma-Verarbeitung teilhaben zu lassen. Alle drei Ebenen sowie das soziale Umfeld des Betroffenen beeinflussen sich wechselseitig und sind in der Therapie zu berücksichtigen - etwa in körpertherapeutischen Verfahren wie der Kunsttherapie. Die Hände werden beim Malen, Formen und Gestalten eingesetzt und so zu Instrumenten einer geistig-seelischen Verarbeitung der Traumata.
- Medikamentöse Behandlung: Bestimmte Krankheitsbilder führen zu seelischen Symptomen wie Phobien, Panikattacken oder Niedergeschlagenheit, die sich nur mit Hilfe spezieller Medikamente (etwa Tranquilizer, Antidepressiva oder Neuroleptika) behandeln lassen. Allerdings ist umstritten, ob solche Medikamente bei Traumapatienten der richtige Weg sind. Auch deshalb, weil sie nicht die Ursachen der Belastungsstörungen angehen.
Psycho-Traumatologie und Posttraumatische Belastungsstörungen
Die Psycho-Traumatologie beschäftigt sich mit den Folgen von Traumata, erforscht und behandelt die Auswirkungen von traumatischen Ereignissen auf das Erleben und Verhalten von Einzelnen und Gruppen. Der aus der Unfallchirurgie stammende englische Begriff „Traumatology“ wurde erstmals im Jahr 1990 von dem US-Kinderpsychiater Dennis Donovan auf psychische Verletzungen angewendet. Daraus entwickelte sich das Konzept der Psychotraumatologie.
Die Tatsache, dass der Mensch Gewalt-, Trennungs-, Missbrauchs- oder Kriegserfahrungen nicht einfach ad hoc verarbeiten kann, führt zu Posttraumatischen Belastungsstörungen – also nachwirkenden seelischen Belastungen. Obwohl dieses Phänomen seit langem bekannt ist, werden PTBS erst seit den 1980er Jahren im Zusammenhang mit dissoziativen Störungen (bei der zusammengehörige Informationen, Wahrnehmungen oder Gedanken nicht mehr miteinander in Verbindung gebracht werden können) verstärkt diagnostiziert.