Serie Rechtsstaat

Wenn aus Richtern Dieselmotor-Experten werden

Die Richterinnen und Richter des 24. Zivilsenats beschäftigen sich Ende 2021 mit den Dieselmotoren vom Daimler. Hunderttausende Seiten Akten, eine Flut einzelner Klagen. Inzwischen aber kommen den Richtern weniger Dieselklagen auf den Tisch, als sie entscheiden. Teil 2 der Serie „Der Rechtsstaat lebt“.

Richter und Dieselmotorexperten – der 24. Zivilsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichts. Von links: Jan Spoenle, Maximiliane Kimmerle, Johannes Munding, Vorsitzender Thilo Rebmann, Claudia Schubert und  Andreas Bauer.

© Lichtgut/Leif Piechowski

Richter und Dieselmotorexperten – der 24. Zivilsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichts. Von links: Jan Spoenle, Maximiliane Kimmerle, Johannes Munding, Vorsitzender Thilo Rebmann, Claudia Schubert und Andreas Bauer.

Von Franz Feyder

Wer auch immer beim Daimler entschied, unzulässig Abschalteinrichtungen in Autos zu bauen, stellte sich wohl nicht vor, dass deshalb einmal Richterinnen und Richter zu wahren Experten für das Innenleben von Motoren, Abgasen und sie beschönigende Manipulationen würden. Dass sie wissen, was die Implementierung eines „Thermofensters“ bedeutet, bei dem die Abgasreinigung je nach Modell etwa schon unterhalb von + 14 Grad Außentemperatur zurückgefahren wird und damit bei anderen hier üblicherweise auch vorkommenden Temperaturen nicht voll funktioniert. Oder wissen würden, wie eine „Kühlmittel-Sollwert-Temperaturregelung“ funktioniert, die zwar eine optimale Abgasreinigung in der Warmlaufphase des Motors aktiviert, aber so programmiert ist, dass sie sich im Straßenbetrieb häufig abschaltet.

Die sechs Richter des 24. Zivilsenats des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart wurden zu solchen Experten. Seit Gründung des Senats im November 2021 entscheiden sie, ob Käufer geschädigt wurden, ihnen Schadensersatz zusteht oder ob ihre Klage unberechtigt ist. „Inzwischen hat alleine unser Senat rund 2.400 Dieselverfahren erledigt“, sagt Thilo Rebmann, der Vorsitzende des Gremiums.

Ein Zivilverfahren ist ein gerichtliches Verfahren, in dem privatrechtliche Streitigkeiten geklärt und entschieden werden. So sollen Konflikte zwischen natürlichen Personen, also allen lebenden Menschen ab der Geburt bis zum Tod, geklärt werden. Oder unter Beteiligung von juristischen Personen, wie Aktiengesellschaften oder Gesellschaften bürgerlichen Rechts, die ebenfalls Träger von Rechten und Pflichten sind.

Zivilverfahren werden dann geführt, wenn Konflikte aus dem Bereich des Zivilrechts, wie etwa Vertragsstreitigkeiten, Schadensersatzforderungen, familienrechtliche Auseinandersetzungen oder Erbstreitigkeiten, geklärt werden sollen. Grundlagen für diese Verfahren sind vor allem das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) und die Zivilprozessordnung (ZPO).

Modernes Gericht unweit des Flughafens

Am Stuttgarter Oberlandesgericht wird auch da Zivilrecht gesprochen, wo es niemand vermutet. Im Stadtteil Fasanenhof, unweit des Flughafens, sitzt der Stuttgart Commercial Court. Hier treffen sich Richter und Anwälte in einem repräsentativen Gebäude und verhandeln große wirtschaftsrechtliche und internationale Streitigkeiten. Nur eine bronzen schimmernde Platte am Hauseingang weist darauf hin, dass hier eines der modernsten Gerichte Europas seine Heimat hat: Helles Holz, eine Lobby, die Gerichtssäle sind so ausgestattet, dass die Richter Verfahrensbeteiligte, Zeugen und Sachverständige mit Hilfe einer Videoanlage weltweit befragen können. Anwälte müssen nicht mehr aus New York oder Melbourne nach Stuttgart reisen, um ihre Klage oder Entgegnung darauf im Gericht vorzutragen. Die Richterinnen und Richter sprechen fließend Englisch.

Ein Zivilverfahren wird durch eine Klage eingeleitet. Mit der macht der Kläger einen Anspruch geltend. Ihm gegenüber steht der Beklagte, gegen den dieser Anspruch gerichtet ist. Das Verfahren, erklärt Thilo Rebmann, „folgt festen Regeln: Nach der Klageeinreichung hat der Beklagte die Möglichkeit, schriftlich auf die Klage zu erwidern. In einer mündlichen Verhandlung legen dann beide Seiten ihre Argumente dar, präsentieren Beweise und es werden gegebenenfalls Zeugen vernommen“. Das Gericht prüfe die vorgebrachten Sachverhalte, wäge die Beweise ab und entscheide dann durch ein Urteil, ob der geltend gemachte Anspruch berechtigt ist, so der Vorsitzende Richter.

Parteien bestimmen, worüber die Richter entscheiden

Die Zuständigkeit der Zivilgerichte richtet sich nach dem Streitwert oder dem Gegenstand der Streitigkeit. Für Streitwerte bis 5000 Euro sind in der Regel die Amtsgerichte zuständig, ebenso für Mietstreitigkeiten über Wohnräume. Bei höheren Streitwerten oder Berufungsverfahren gegen Entscheidungen der Amtsgerichte das Landgericht. Höhere Instanzen wie das Oberlandesgericht oder der Bundesgerichtshof befassen sich – wie im Dieselverfahren – mit Berufungen und Revisionen.

Der Unterschied zum Strafverfahren ist, sagt Rebmann, „dass die Parteien bestimmen, worüber wir Richter entscheiden. Kläger und Beklagter tragen die Verantwortung dafür, ihre Ansprüche und Beweise vollständig in das Verfahren einzubringen“. Das Gericht befinde ausschließlich über das, was von den Parteien beantragt wurde. Jede Partei sei also selbst dafür verantwortlich, ihre jeweilige Position den Richtern umfassend darzulegen.

Die Kosten des Verfahrens, zu denen Gerichtskosten und Anwaltsgebühren zählen, trägt in der Regel die unterlegene Partei. Wenn jede Partei teilweise obsiegt und verliert, können die Richter die Kosten zwischen den Streitenden aufteilen.

28 000 Dieselverfahren für sechs Richterinnen und Richter

Zivilverfahren, sagt Rebmann, „spielen eine wichtige Rolle in unserem Rechtssystem“. Sie ermöglichten „eine geordnete und rechtsstaatliche Lösung privatrechtlicher Konflikte“. Anders ausgedrückt: Sie verhindern, dass sich Menschen an die Kehle gehen, weil der eine bei eisigen Temperaturen keinen Schnee auf dem Bürgersteig vor seinem Haus geschippt hat und der andere deswegen ausgerutscht ist und sich ein Bein gebrochen hat. Rebmann ist überzeugt, dass „so das Vertrauen in den Rechtsstaat gestärkt wird“.

So auch in den „Dieselverfahren“. Rund 28 000 solche Berufungen sind alleine beim Oberlandesgericht Stuttgart eingegangen. In diesen Klagen werfen Fahrzeugkäufer Automobilherstellern vor, es seien unzulässige Abschalteinrichtungen implementiert und die Käufer darüber getäuscht worden. Auch die für die Zulassung des Fahrzeugs erforderliche Erklärung des Herstellers, dass das Auto den EU-Vorgaben entspreche, sei unrichtig gewesen. Mit Abschalteinrichtung stoßen die betroffenen Fahrzeuge auf der Straße deutlich mehr Emissionen aus, als ohne. Insgesamt entdeckte das Kraftfahrt-Bundesamt fünf illegale Abschalteinrichtungen in fast allen Diesel-Modellen von Mercedes-Benz. In Europa rief der Konzern etwa 1,4 Millionen Fahrzeuge zurück, allein in Deutschland 550.000.

Immer noch 8 000 Dieselverfahren nicht entschieden

Nach den bisherigen Ermittlungen begann der Dieselskandal bei der Daimler AG im Jahr 2015, als die Schweizer Abgasprüfstelle erstmals bei einem Mercedes einen überhöhten Stickoxidausstoß im Straßenbetrieb feststellte. Im März 2017 leitete die Staatsanwaltschaft Stuttgart offiziell Ermittlungen gegen Daimler-Mitarbeiter wegen des Anfangsverdachts des Betrugs und der strafbaren Werbung ein. Zwei Monate später durchsuchten 23 Staatsanwälte und 230 Polizisten an 11 Daimler-Standorten. Im Juni 2023 entschieden Richter des Bundesgerichtshofs, dass grundsätzlich Schadensersatzansprüche für Millionen Diesel-Fahrzeuge mit unzulässigen Abschalteinrichtungen bestehen können.

Noch immer sind am Oberlandesgericht über 8 000 Dieselklagen anhängig. Viele davon bearbeitet der 24. Senat des Stuttgarter Oberlandesgerichtes. Sechs Richterinnen und Richter, die unfreiwillig zu Experten für Dieselmotoren geworden sind.

Gerichtssaal in anderer Umgebung: In einem der Bürogebäude im Stadtteil Fasanehof im STuttgarter Süden sprechen Richterinnen und Richter des 24. Zivilsenates Recht.

© Lichtgut/Leif Piechowski/Leif Piechowski

Gerichtssaal in anderer Umgebung: In einem der Bürogebäude im Stadtteil Fasanehof im STuttgarter Süden sprechen Richterinnen und Richter des 24. Zivilsenates Recht.

Moderner Gerichtssaal: Unter einer modernen Leuchte sitzen Richter und Anwälte nahe und auf gleicher Höhe zusammen, um Schadensersatzansprüche und andere Zivilklagen zu entscheiden. Hier können Gerichtsverhandlungen geführt werden, in denen Prozessbeteiligte per Video zugeschaltet werden.

© Lichtgut/Leif Piechowski/Leif Piechowski

Moderner Gerichtssaal: Unter einer modernen Leuchte sitzen Richter und Anwälte nahe und auf gleicher Höhe zusammen, um Schadensersatzansprüche und andere Zivilklagen zu entscheiden. Hier können Gerichtsverhandlungen geführt werden, in denen Prozessbeteiligte per Video zugeschaltet werden.

Die beiden Richterinnen und vier Richter des 24. Zivilsenats, die auch im sogenannten Dieselverfahren entscheiden (von rechts): Jan Spoenle, Maximiliane Kimmerle, Johannes Munding, Vorsitzender Thilo Rebmann, Claudia Schubert und Andreas Bauer

© Lichtgut/Leif Piechowski/Leif Piechowski

Die beiden Richterinnen und vier Richter des 24. Zivilsenats, die auch im sogenannten Dieselverfahren entscheiden (von rechts): Jan Spoenle, Maximiliane Kimmerle, Johannes Munding, Vorsitzender Thilo Rebmann, Claudia Schubert und Andreas Bauer

Der Eingangsbereich der Gerichtsetage im Stuttgarter Fasanenhof.

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Der Eingangsbereich der Gerichtsetage im Stuttgarter Fasanenhof.

Trotz aller Annehmlichkeiten Respekt vor dem Gericht: Tassen und Gläser müssen im Gerichtssaal draußen bleiben.

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Trotz aller Annehmlichkeiten Respekt vor dem Gericht: Tassen und Gläser müssen im Gerichtssaal draußen bleiben.

Auf der neuen Gerichtsetage haben Anwälte und Richter an den Gerichtstagen eigene Büros.

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Auf der neuen Gerichtsetage haben Anwälte und Richter an den Gerichtstagen eigene Büros.

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Erstellt:
31. Januar 2025, 07:06 Uhr

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