Wahlrecht
Wenn der Bundeskanzler nach US-System gewählt würde
Was wäre, wenn Wahlmänner und nicht der Bundestag den Kanzler wählen würden? Ein junger Politikwissenschaftler hat es durchgerechnet und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen.
Von Eberhard Wein
Es geht mit Riesenschritten auf die US-Präsidentschaftswahl zu. Zeit, sich wieder mit dem amerikanischen Wahlmännersystem vertraut zu machen, das hierzulande ja als ungerecht gilt, weil selbst der knappste Sieger eines Bundesstaates jeweils alle Stimmen kassiert.
Doch wie sähe es aus, wenn auch bei uns nach diesem Wahlrecht gewählt werden würde? Julius Kölzer, Student im Masterstudiengang aus Kiel, hat auf einer „langweiligen Zugfahrt“, wie er einräumt, dieses Gedankenexperiment auf Grundlage der bisherigen Bundestagswahlergebnisse durchgerechnet und damit auf X, vormals Twitter, einen kleinen Scoop gelandet.
Schröder hätte weitermachen dürfen
Wichtigstes Ergebnis der Spielerei: Auch nach US-Wahlrecht hieße der aktuelle Kanzler Olaf Scholz. Es gäbe aber keinen Ampelärger. Die SPD verfügte im Wahlkollegium über eine komfortable Mehrheit von 240 Stimmen, FDP und Grüne wären überhaupt nicht vertreten. Nur Bayern (52 Stimmen) und Baden-Württemberg (44) gingen an die Union, Thüringen (12) und Sachsen (20) an die AfD.
I was bored on the train, so I calculated how every German election since 1953 would have turned out in a US-style electoral system. Parties would win all the electors in a state by relative majority & win the entire election with a majority of electors in an electoral college. pic.twitter.com/G0km8L3TdB — Julius Kölzer (@Julius_Ktxt) April 23, 2024
Was bei der Neukalkulation auffällt: Fast immer wäre in den vergangenen 70 Jahren auch nach US-System derjenige Kanzler geworden, der es dann auch war. Es gibt nur zwei, allerdings bedeutsame Ausnahmen: 1969 hätte es Willy Brandt (SPD) – noch – nicht geschafft, 2005 wäre Gerhard Schröder (SPD) im Amt geblieben. Dabei hatten Angela Merkel und die Union damals bundesweit knapp vorne gelegen und das berühmte „Popular vote“ gewonnen.
Hessen, das Schunkelland
Die typischen Swing-States – zu deutsch: Schunkelländer –, auf die sich in den USA die Wahlkämpfer konzentrieren, wären Hessen und das Saarland. In Baden-Württemberg müsste man hingegen erst gar keine Plakate kleben. Mit Bayern war der Südwesten immer eine sichere Bank der Konservativen – also ein bisschen wie Texas.