Wenn der Opa Aufseher im KZ war
Im monatlich stattfindenden Erzählcafé haben Kriegsenkel die Möglichkeit, davon zu berichten, wie der Zweite Weltkrieg bis in die dritte Generation nachwirken kann. Beim Novembertermin ging es um komplizierte Trauer, großes Schweigen und die Hoffnung auf Entwicklung.
Von Nicola Scharpf
Backnang. Es sind keine leichten Themen, über die Timea Müller die Menschen einlädt, in ihrem Erzählcafé „Kriegsenkel“ miteinander ins Gespräch zu kommen. Schöne Abende, auch herzergreifende, sollen es dennoch werden an jedem ersten Dienstag eines Monats in der Backnanger Beletage. Sanft weisen Windlichter den Weg vom Eingang über die gewendelte Treppe in den zentralen Raum im oberen Geschoss der ehemaligen Oberen Apotheke, der ebenfalls in gedimmtes Licht getaucht ist. Knabbereien stehen auf dem Tisch, Getränke auf dem Sideboard. Sieben Teilnehmerinnen haben auf Bequemstühlen Platz genommen, um sich über das Leben mit dem Toten, über komplizierte Erinnerungen und die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs bis in die dritte Generation auszutauschen. Der erste Dienstag im November fällt dieses Mal auf Allerheiligen und ist damit Auftakt zu einem besonderen Trauermonat: Allerseelen, Volkstrauertag, Totensonntag. Der persönlichen und der nationalen Gestorbenen wird gedacht, Menschen stellen sich ihrer Ahnengeschichte.
Das ist dann weniger kompliziert, wenn die Verstorbenen tolle Menschen waren, die tolle Erinnerungen hinterlassen haben, sagt Gastgeberin Timea Müller, unter anderem diplomierte Pädagogin und zertifizierte Integrationskraft. „Aber was tun, wenn die Verstorbenen fürchterlichen Taten begangen haben?“, fragt die systemische Beraterin in die Runde. Was tun, wenn der Opa ein Nazi war? Dürfen wir um ihn trauern? Was passiert, wenn Eltern, die uns missbraucht haben, sterben? Dürfen wir Geschichten über eine Großmutter erzählen, die vergewaltigt wurde? Müller sagt, dass Fälle von schlimmer Trauer schnell institutionalisiert werden in Form von Gebeten, Gedenkveranstaltungen, Kranzniederlegungen und anderen Ritualen. Diese institutionalisierte Trauer habe ihre Berechtigung. Aber sie ersetze nicht die eigene Trauerarbeit. „Es fehlt die individuelle Trauer, das Emotionale.“ Deutschland habe seit dem Zweiten Weltkrieg den Stempel als Täter. „Das hat großes Schweigen verursacht. Der Weg ist oft das Schweigen. Das ist ein Schutzmechanismus. Man schiebt weg und verdrängt, weil es weh tut.“
Die Beteiligten agieren in einem geschützten Rahmen
Die Hauptsache des Erzählcafés ist, dass die Beteiligten in einem geschützten Rahmen die Empathie der anderen spüren können, „dass man Sachen zeigen darf, die man sonst nicht zeigt“. Es ist weder ein Trauercafé noch eine Therapiesitzung, sondern eine moderierte Gesprächsrunde, in der sich die Teilnehmerinnen mit ihrer eigenen Einstellung und der anderer zu Tod, Sterben, Trauer beschäftigen.
Und es geht um die Wunden und Narben auf der Seele, die durch das Schweigen vertieft wurden und die von den Eltern unbewusst an ihre Kinder weitergegeben werden können. Timea Müller hat den systemischen Ansatz, nach dem sie arbeitet und der den Menschen in Wechselwirkung mit seiner Familie, mit Freunden, Kollegen, Nachbarn und vielen mehr sieht, erweitert um die vorangegangenen Generationen. Es geht um die transgenerationale Weitergabe von Traumata.
Als Beispiel erzählt Timea Müller aus der hochgradig belasteten Familiengeschichte des Antisemiten Amon Göth, der als berüchtigter Kommandeur im polnischen Konzentrationslager Plaszow grausige Taten begeht und nach Kriegsende zum Tode verurteilt wird. Seine Geliebte Majola vergöttert ihn und ist desinteressiert daran, was im Lager geschieht. Die aus der Verbindung hervorgegangene Tochter weiß lange nichts von ihrer Vorgeschichte, erfährt es dann doch und schreibt schließlich das Buch „Ich muss doch meinen Vater lieben, oder?“ Auch ihre Tochter wiederum wächst unwissend auf, erfährt erst im Alter von 38 Jahren, dass sie die Enkelin eines Mörders ist, leugnet ihre Identität nicht und kann sich von ihrem Schicksal distanzieren. Auch sie, Jennifer Teege, schreibt ein Buch – Titel: „Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen.“
„Die Kriegskinder sind mit dem Schweigen aufgewachsen.“
Timea Müller schließt ihren Bericht mit der Feststellung, dass es in fast jeder Familie Täter, Opfer sowie Täter und Opfer in einer Person vereint gibt. Eine Teilnehmerin knüpft daran an und beginnt zu erzählen. „Die Kriegskinder sind mit dem Schweigen aufgewachsen.“ Sie selbst habe zwei Großväter gehabt, die Nazis gewesen seien. „Die Verwandtschaft will es nicht wissen. Das scheint immer noch normal zu sein.“ Ein Opa sei Aufseher in einem Arbeitslager gewesen. „Man redet immer von den großen, von Auschwitz. Aber die kleinen Lager, die verteilt waren in Deutschland, werden verdrängt.“ Eine weitere Teilnehmerin erzählt, wie ihr Opa ihr oft gedroht hat, sie mit dem Beil zu erschlagen, und dass sie Alpträume bekam, nachdem er tot war. Erst als sie sich – aus anderen Gründen – in Therapie begab, habe sie darüber sprechen können. „Vorher konnte ich nicht sprechen.“
Eine dritte Teilnehmerin beschäftigt die Frage: „Was habe ich in mir drinnen? Auch von diesem Bösen? Soll man das rausfinden?“ Timea Müller rät, die Verbindung zu den Vorfahren zu suchen und die Tabus in der Familie zu brechen. „Wenn das Schweigen gebrochen ist, ist es eine Möglichkeit, um Dinge wiedergutzumachen.“ Das Gespräch kommt auch auf das aktuelle Tagesgeschehen: Krieg in der Ukraine mit Flucht, Vertreibung, Hunger, Missbrauch. Eine Teilnehmerin hat aus diesem Grund zwei Kerzen mitgebracht, zündet sie an, stellt sie auf Untersetzern auf den Tisch. Es geht um die Menschenrechtslage in China, um Putin. Eine weitere Frau stellt resigniert fest: „Wir lernen nichts dazu. Dass man immer noch solche Autokraten zulässt?“
Timea Müller setzt dem entgegen: In der Wissenschaft, beispielsweise in der Epigenetik, in der Genetik, in den Neurowissenschaften werde viel geforscht über die transgenerationale Weitergabe von Traumata. „Wir schweigen ja nicht mehr. Es braucht Entwicklungszeit. Die Menschen, die hier sitzen, setzen sich auseinander. Das ist eine Chance und Hoffnung.“