Wenn Eltern zu Waisen werden

Nach der Beerdigung von Julen in Spanien: Ein Leben lang leiden Mutter und Vater unter dem Tod ihres Kindes

Wenn das Unfassbare geschieht und ein Kind stirbt, ist die Familie, sind Eltern in Schockstarre. Doch irgendwann müssen sie sich – wie Julens Eltern – mit dem Schicksal auseinandersetzen.

Totalán/Stuttgart Am Sonntag wurde Julen in der südspanischen Stadt Málaga beigesetzt. Der Zweijährige, der vor rund zwei Wochen in ein illegal gegrabenes Bohrloch gefallen war, fand neben seinem Bruder Oliver seine letzte Ruhe. Für Julens Eltern, José Rosolló und Vicky Garcia, ist es bereits der zweite schwere Schicksalsschlag innerhalb weniger Jahre. Oliver war im Jahr 2017 kurz vor seinem dritten Geburtstag bei einem Strandspaziergang an Herzversagen gestorben. Julen starb an einem Schädel-Hirn-Trauma. Er war 71 Meter „im freien Fall“ in das Bohrloch gestürzt und hatte sich dabei an mehreren Steinen gestoßen.

Der Verlust eines Kindes stürzt die Hinterbliebenen in eine tiefe Sinnkrise. Der Tod wird als vollkommen unnormal und sinnlos empfunden. „Das ist ein unvorstellbarer Schmerz“, sagt der Palliativmediziner sowie Kinder- und Jugendpsychiater Christoph Student im Interview mit unserer Zeitung. Worauf es in dieser schweren Zeit ankommt, sei, dass die Eltern ihren Schmerz ausdrücken können. „Dabei ist eines der besten und häufigsten Ventile die Wut. Und zwar in dem Sinne, dass sie auf alle Welt wütend sind und Schuldzuweisungen machen. Die Wut richtig rauslassen können, das ist in einem solchen Fall ideal.“

In der ersten Zeit schützen die Abwehrmechanismen der Psyche vor einem emotionalen Kollaps. „Die Eltern befinden sich in einer Schockstarre, in der gar keine Gefühle vorhanden sind und der Alltag weiterläuft“, erklärt Student. Doch nach einigen Wochen lasse die „Polsterung der Seele“ nach. Die Betroffenen würden mit Schrecken wahrnehmen, dass Schmerz und Verlustgefühl nicht weniger, sondern „tiefer werden“. Erst danach beginnt die lange Zeit der Trauer.

In all den Jahren nach dem tragischen Verlust durchleiden Eltern und Geschwister von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde ein Wechselbad der Gefühle. Ganz allmählich stellen sich kleine Veränderungen ein, wie betroffene Eltern berichten: Man kann an den Verstorbenen denken, ohne gleich zu weinen; erlebt Tage, an denen die Erinnerung einen umhüllt wie ein wärmender Mantel, an denen man Dankbarkeit für die gemeinsamen Jahre spürt, an denen die Hoffnung größer ist als die Verzweiflung.

Nach Aussage von Christoph Student, der von 1997 bis 2006 Gesamtleiter des Hospizes Stuttgart war, wühlt ein plötzlicher Todesfall viel mehr auf als ein absehbarer Tod. „Der plötzliche Todesfall löst meistens viel mehr ungefilterte Gefühle aus.“ Die Partner gingen häufig oft sehr unterschiedlich mit ihrer Trauer um, so der Mediziner weiter. Frauen könnten eher ihre Gefühle zeigen und ausdrücken – vielleicht stiller als Männer. Männer hingegen neigten eher dazu, sich aggressiv zu verhalten. Oder sie würden sich zurückziehen und verdeckten die Gefühle, welche die Trauer in ihnen auslöst.

Gibt es einen zeitlichen Rahmen für die Trauerphase? „Überhaupt nicht“, betont Student. Von „normal“ könne man ohnehin nicht sprechen, weil beim Tod eines Kindes nichts „normal“ sei . „Zehn Jahre sind da völlig im Zeitrahmen. Es dauert lange, vielleicht nicht mehr mit der Intensität wie am ­Anfang. Aber ­jeder Anlass, jede ­Beunruhigung, jede Krankheit eines anderen lebenden Kindes ist möglicherweise ein Anlass, wieder in Panik zu verfallen. Dann kommt die alte Trauer wieder hoch.“

Verwandte und Freunde sind häufig überfordert, die Eltern auf ihrem Trauerweg zu begleiten. Immer wieder dieselben Geschichten, Bilder, Erinnerungen. „Das Schlimmste ist die Isolation, weil sich viele Freunde und Verwandte zurückziehen“, sagt eine Mutter, deren Sohn vor Jahren an einer Maservireninfektion starb. Wie überlebt man einen solchen Verlust? „Indem man redet, immer wieder redet“, antwortet sie, „und die Erinnerung öffentlich macht.“ Eltern wollten der ganzen Welt zeigen, dass ihr Kind gelebt hat und nie vergessen werden darf. „Alle sollen ihr tolles Kind kennenlernen.“

Man könne den Schmerz, den Verlust überleben, sagt eine andere betroffene Mutter. „Es ist harte Arbeit. Nicht umsonst heißt es Trauerarbeit. Und sie dauert ein Leben lang.“ An dieser Trauer führe kein Weg vorbei – nur durch sie hindurch. Was Therapeuten in einer solchen Ausnahmesituation tun können, sei begrenzt, betont Student. Sie könnten die Eltern darin bestätigen, dass alles, was sie an Gefühlen zeigen – und sei es noch so verrückt –, normal sei. „Eltern haben häufig das Gefühl, dass sie in dem, was sie tun, sehen und wahrnehmen, nicht normal sind. Ihnen da die Gewissheit zu geben, dass alles normal ist, ist ganz entscheidend.“

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Erstellt:
29. Januar 2019, 11:22 Uhr

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