Wenn Gebet und Bibellesen wichtig werden
Im Elternhaus bekommen Kinder Haltungen vorgelebt – auch in Fragen der Religion. In Zeiten, in denen der Bezug zur Religion abnimmt, wird es Kindern immer seltener in die Wiege gelegt, ihren Glauben zu praktizieren. Junge Erwachsene erzählen, warum sie dennoch gläubig wurden.

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Wenn Kinder zum Glauben finden, können sie sich verändern, beispielsweise weil sich Prioritäten verschieben. Foto: Adobe Stock./Nastyaofly
Von Nicola Scharpf
Backnang. Ein einwöchiger Klosteraufenthalt in Reute im Alter von 15 Jahren ist für Elaine Golov der Wendepunkt: „Mein Leben hat sich auf den Kopf gestellt“, erzählt die heute 19-jährige Backnangerin und gibt ihre Eindrücke vom Klosterleben wieder: „„Es war spannend, zu sehen, was die Leute für eine Leidenschaft haben. Für mich war klar: Ich will diesen Frieden.“ Die Menschen im Kloster seien glücklich, ohne dass sie viel besäßen, hätten eine Grundzufriedenheit. Golov berichtet von ihren Selbstzweifeln während der Pubertät und dem Gefühl, dass irgendetwas fehlt. Das ist heute anders: „Gott füllt mich mit dem, was gefehlt hat, und die Selbstzweifel haben aufgehört.“ Nach dem Klosteraufenthalt wendet sich die Jugendliche an die evangelische Kirchengemeinde in Maubach, nimmt am Fest „Ich glaub’s“ teil, wird direkt in der Kirchengemeinde aufgenommen, beginnt, sich in der Jungschar zu engagieren und in der Kirchengemeinde Verantwortung zu übernehmen. Ihre Hobbys ändern sich: Sie bringt sich das Keyboard- und Ukulelespielen selbst bei, weil Lobpreismusik sie so sehr anspricht. Sie versucht, täglich in der Bibel zu lesen, und sie spricht ein Tischgebet, wenn sie für sich ist. Im Familienkreis verzichtet sie darauf. Auch ihre allgemeine Einstellung auf Menschen ändert sich. Die junge Frau berichtet, dass sie Wärme im Herzen und Körper spürt, sich zufrieden und glücklich fühlt. „Meine gute Laune liegt aber nicht an mir, es liegt an Jesus.“
Im Gepäck mit christlichen Büchern, drei Bibeln und einem Notizbuch
Im Jahr 2022 lässt sich Golov taufen. Ihre Eltern seien nicht gläubig und keine Kirchenmitglieder. „Mein größter Wunsch ist, dass meine Eltern etwas vom Glauben hören. Ich kann davon erzählen, aber ich will nicht überzeugen.“ In diesem Jahr hat an einer evangelischen Schule Abitur gemacht und vor ein paar Wochen ihren einjährigen Freiwilligendienst angetreten, der sie in den peruanischen Ort Curahuasi führt. In ihren zweimal 23 Kilogramm Gepäck, die sie auf dem Flug mitnehmen konnte, befanden sich christliche biblische Bücher, drei Bibeln und ein Notizbuch, um Gebete aufzuschreiben. Das Projekt nennt sich Diospi Suyana – ein Missionskrankenhaus mit angegliederter Schule. Golov arbeitet in der Schule mit und betreut Kinderklubs. Parallel zum Freiwilligendienst besucht die junge Frau online die Bibelschule „um Gott persönlich kennenzulernen“. Ihre Eltern seien zunächst überrascht gewesen, dass es für ihre Tochter so weit weg gehe. Es habe sie aber überzeugt, dass sie dort Menschen, die in Armut sind, konkret helfe.
Wenn Kinder zur Ausübung des Glaubens eine andere Haltung einnehmen als ihre Eltern, ist Toleranz hilfreich – auf beiden Seiten. Diese Erfahrung hat auch ein 28-jähriger Backnanger gemacht, der nach dem Abitur am Max-Born-Gymnasium Lehramt studiert hat und namentlich nicht genannt werden möchte. Er sagt: In seiner Erziehung hätte er sich in Glaubensfragen mehr Orientierung gewünscht. Er habe zwar keinen atheistischen Hintergrund und sei nicht ganz ohne christliche Werte erzogen worden. Aber im katholischen Glauben, so wie er Bestandteil im Leben seiner Eltern sei, fühlte er sich nicht aufgehoben.
Kommunion aus Tradition, nicht aus Überzeugung
„Als Kind und Jugendlicher ging es mir um den aktiven Glauben und weniger um Werte.“ Lange habe ihm das Selbstbewusstsein gefehlt, darüber zu sprechen, dass er sich in der katholischen Kirchengemeinde nicht wohlfühlt. Er habe die Erstkommunion erhalten und auch die Firmung, „aus Tradition, nicht aus Überzeugung“. Er wolle nicht verallgemeinern, persönlich habe er den Glauben und die Lehre in der katholischen Kirchengemeinde allerdings als oberflächlich und wenig individuell empfunden. Zusammen mit seinen Freunden habe er in der Jungschar der evangelischen Kirche etwas anderes erlebt: einen lebendigen Glauben. Hoffnung, Zuversicht und Freude hätten dabei die Beziehung zu Jesus ausgemacht. Zu Hause finde er sich daher stärker im protestantischen Glauben, speziell bei den Liebenzellern – einer Frömmigkeitsbewegung innerhalb der evangelischen Kirche.
„Meine Eltern haben gemerkt, dass mir das wichtig ist.“ Er beschreibt seine Eltern als liberal denkend und habe ihre Unterstützung erfahren. „Kinder, die zum Glauben finden, können sich stark verändern.“ Moralische und ethische Fragen bekämen Einfluss auf das Kind. Das sei auch bei ihm so gewesen: Prioritäten haben sich verschoben. Er habe Handball auf hohem Niveau gespielt, was zeitintensiv gewesen sei und sich zeitlich gebissen habe mit seinem Engagement für den christlichen Jugendkreis. Weil es in der Jugendarbeit um die fundamentalen Fragen des Lebens gehe, habe er seine eindeutige Priorität darauf gelegt.
Vor einem Jahr sei er aus der Kirche ausgetreten. Zehn Prozent ihres Einkommens würden er und seine Frau abgeben und die weltweite Mission, ihre Gemeinde vor Ort sowie die Jugendarbeit des EC (Entschieden für Christus ist eine Jugendorganisation innerhalb der evangelischen Kirche und Mitglied im Gnadauer Gemeinschaftsverband) unterstützen. „Dort sind Leute, die davon überzeugt sind und deswegen gerne eine Abgabe leisten“, sagt er. In Backnang ist der junge Mann nach wie vor engagiert. Er liest hobbymäßig viel im theologischen Bereich. Die Frömmigkeit spielt in seinem Alltag eine große Rolle. So steht er zum Beispiel eine halbe Stunde früher auf, um in der Bibel zu lesen. Ein weiterer wichtiger Baustein ist: Er ist Teil einer Kleingruppe, die einmal pro Woche zusammenkommt, um sich über Bibeltexte auszutauschen und gemeinsam zu essen. Für ihn ist es ein Teil der Erziehung, Kindern seine eigenen Werte mitzugeben. Aber ein persönlicher Glaube stehe dabei jedem zu.
Orientierung Wenn es um die „großen“ Fragen, um Orientierung für den Menschen in der heutigen Zeit geht, gelten die christlichen Kirchen immer noch als zuständig, auch wenn Kirchgang, Gebet, Feiern von Festen des Kirchenjahrs oder von besonderen Ereignissen wie Taufe, Kommunion, Firmung und Konfirmation für viele Eltern eine gewandelte Bedeutung bekommen haben.
Selbstbestimmungsrecht Religiöse Orientierungspunkte im Erziehungsalltag können Kindern Sicherheit vermitteln. Das Selbstbestimmungsrecht des Kindes sollte dabei gewahrt bleiben. Eine religiöse Haltung darf nicht aufgezwungen werden. Wie das Gesetz hinsichtlich der Erziehung allgemein betont, sollen die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem und verantwortungsbewusstem Handeln berücksichtigt werden.