Serie Rechtsstaat

Wie aus Studenten Staatsanwälte werden

Vor dem ersten Plädoyer einer jungen Staatsanwältin geht der Angeklagte stiften. Verurteilt wird er trotzdem. Teil 6 der Serie „Der Rechtsstaat lebt“

Auch Berufsalltag: Staatsanwältin Stefani Ruben stellt sich zum Auftakt eines Gerichtsverfahrens den Fragen von Journalisten.

© Lichtgut/Julian Rettig

Auch Berufsalltag: Staatsanwältin Stefani Ruben stellt sich zum Auftakt eines Gerichtsverfahrens den Fragen von Journalisten.

Von Franz Feyder

Für Tabea Schenk ist es das erste Mal. Ein wenig zittert die Rechte, als sie den schwarzen Umhang aus ihrer Tasche kramt und ihn überstreift. Als sie die neun Knöpfe ihrer Robe schließt, hat das fast etwas Meditatives. Noch der letzte am Oberschenkel. Die Linke wischt eine Haarsträhne beiseite, ein Blick auf die vier Zuschauer – und aus Tabea Schenk ist eine Staatsanwältin geworden. Zum ersten Mal soll die junge Frau einen Menschen anklagen.

Ein schwieriger Fall. Der Mittvierziger hat bereits mehrfach Richter, Staatsanwälte und Polizisten beleidigt und auch bedroht. Ist deswegen mehrfach verurteilt. Trotzdem hat er weiter einem Richter Schmäh-Mails geschickt, ihm gedroht, dass der Jurist in „unsicheren Zeiten lebt“. Angeklagt ist der Fall vor dem Amtsgericht Stuttgart: kleiner, lichtdurchfluteter Gerichtssaal. Zwei Justizwachtmeister haben sich vorsorglich auf die Plätze für Zuschauer gesetzt.

Auch Stefanie Ruben ist da, eine erfahrene Anklägerin der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, die mit drei Rechtsreferendarinnen, angehende Volljuristen in der praktischen Ausbildung, die Fälle durchgeackerte. Denn zur Ausbildung gehört auch, Tatverdächtige als Staatsanwalt anzuklagen. Deshalb hat Ruben mit den jungen Frauen das Plädoyer geübt, jene Rede, in der Verteidiger und Ankläger den Fall vor einem Urteilsspruch abschließend zusammenfassen und ihre Anträge stellen, eine Strafe oder Freispruch fordern. „Machen sie sich bewusst, dass Ihre Entscheidung Menschenleben beeinflussen kann“, gibt Ruben den Frauen mit auf den Weg. Und: „Bleiben Sie gelassen.“

Vielleicht auch deshalb plaudert der Richter mit Tabea Schenk, die ihren wirklichen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Das erste Mal ist Thema. Denn, schwört jeder, der die Juristerei studiert und beide Staatsexamina abgelegt hat, „an diesen Tag wirst du dich immer erinnern“: Wer nach dem ersten Examen die Uni verlässt, wird zwei weitere Jahre ausgebildet, bevor er nach dem zweiten Staatsexamen Richter, Staatsanwalt oder Anwalt werden kann. Ein Training an Amts-, Land- oder dem Oberlandesgericht (OLG). In Anwaltskanzleien, der Verwaltung und bei der Staatsanwaltschaft. Genug Gesprächsstoff also für den Richter und die Staatsanwältin. Denn der Angeklagte lässt auf sich warten.

Bis er 40 Minuten zu spät durch die offene Tür schlüpft. Trainingsanzug. Die Füße in dicke wollene Socken und Sandalen verpackt. Die Haare platt, dünn; einzelne, glänzende Strähnen haben sich gebildet. Zielgerichtet geht er zum Stuhl für den Angeklagten gleich an der Tür, legt seinen Jutebeutel auf den Tisch, setzt sich: „Was gibt’s?“ – „Schön, dass sie es einrichten konnten. Dann hören wir uns mal an, was die Staatsanwältin ihnen heute vorwirft“, übergeht der Richter gelassen die Provokation. Schenks Füße wippen. Sie steht auf und verliest die Anklageschrift. Erst leise, nach sieben, acht Sätzen lauter werdend. Zunehmend schaut sie dabei den Angeklagten an.

„Unser Anspruch ist“, sagt Thomas Klink, „dass wir die besten Absolventen des 2. Staatsexamens als Richter oder Staatsanwälte gewinnen.“ Der Richter am Oberlandesgericht und Ausbildungsleiter für Rechtsreferendare im Verantwortungsbereich des OLG Stuttgart koordiniert nach dem Studium die komplexe, dicht gedrängte Ausbildungszeit der Referendare. Legen diese erfolgreich das zweite Examen ab, sind sie befähigt, nicht nur Rechtsanwalt zu sein, sondern auch Richter und Staatsanwalt.

Absehbarer Mangel an Richtern und Staatsanwälten

Dafür muss aber nicht nur die Note hervorragend sein, macht Klink deutlich. „Gerade Richter und Staatsanwälte sind heute sehr oft in Situationen, die sie mit hoher sozialer Kompetenz, Menschlichkeit und Charakter lösen müssen. Das muss zur reinen Note unbedingt dazukommen.“

Auch deshalb, weil Richter und Staatsanwälte heute Mangelware auf dem Arbeitsmarkt sind. Kanzleien und Unternehmen locken junge Juristen mit hohen, oft sechsstelligen Jahresgehältern und schicken Dienstwagen. Deutsche Richter und Staatsanwälte sind im EU-Vergleich unterbezahlt, wie die Union mittlerweile seit Jahren in ihren Berichten bescheinigt.

Verschärft wird die Situation dadurch, dass im Osten Deutschlands bis 2030 wegen anstehender Pensionierungen etwa 3000 Richter fehlen werden – das ist die Hälfte der derzeitigen Stellen. Eine Entwicklung, die auch für die Bundesländer im Westen bis Mitte des kommenden Jahrzehnts spürbar wird.

Tabea Schenk hat sich bereits entschieden: Sie will nach dem Examen zunächst Justiziarin einer kommunalen Verwaltung werden. Grund dafür ist nicht der Angeklagte vor ihr, der wiederholt Richter und Polizisten bedrohte: „Sie dürfen gar nicht über mich richten“, bescheidet er dem Richter. „Mit welchem Recht belästigen sie mich überhaupt?“ – „Wollen sie zu den Vorwürfen etwas sagen, die die Staatsanwältin vorgetragen hat?“, fragt der Richter ihn wiederholt. Patzig antwortet der: „Ich muss aufs Klo.“

Ohne eine Reaktion des Richters abzuwarten steht er unvermittelt auf, nimmt seinen Jutebeutel und schlurft aus dem Gerichtssaal. „Das ist mir alles zu blöde hier“, murmelt er im Hinausgehen. Einer der Justizwachtmeister folgt ihm – und meldet nach zehn Minuten, der Angeklagte habe das Gericht verlassen. „Dann urteilen wir eben ohne ihn“, entscheidet der Richter. „Ihr Plädoyer, Frau Staatsanwältin.“ Schenk plädiert: mit fester Stimme, den Blick streift nur gelegentlich die Blätter vor ihr. Ihre Hände sind jetzt ruhig. Die junge Staatsanwältin fordert eine Haftstrafe von 6 Monaten ohne Bewährung. Diesem Antrag schließt sich der Richter in seinem Urteil an.

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Erstellt:
14. Februar 2025, 16:12 Uhr

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