Mörder sind niemals sicher
Wie Ermittler bei „Cold Cases“ vorgehen
Hunderte Mordfälle in Deutschland sind noch ungeklärt. Die Polizei nennt sie „Cold Cases“. Manche dieser Verbrechen liegen mehrere Jahrzehnte zurück und sind bis heute ungeklärt. Künstliche Intelligenz könnte den Ermittlern helfen, aber nicht alles ist erlaubt.
Von Markus Brauer/dpa
Klaus Berninger ist 16 Jahre alt, als er in einem Wald an der Landesgrenze zwischen Hessen und Bayern getötet wird. Das ist jetzt 34 Jahre her. Doch der Täter ist nach wie vor nicht überführt. Die Polizei hat zwar einen Verdächtigen, aber keine handfesten Beweise gegen ihn, auch weil mögliche Mitwisser mauern.
Täterprofil aus dem DNA-Labor
In anderen Altfällen – den sogenannten Cold Cases – können die Beamten Mörder mittlerweile auch viele Jahre nach der Tat überführen, wenn die damaligen Ermittler Beweismaterial gesichert haben und sich daran heute etwa aussagekräftige DNA-Spuren finden – und man Vergleichsmaterial hat.
„Cold Cases“ heißen diese oft Jahrzehnte lang offenen Taten. Bundesweit gibt es Schätzungen zufolge Hunderte – und die Arbeit an ihnen fordert Ermittler und Justiz. Jeder Fall hat seine eigene Besonderheit und bietet von der Aktenlage oder aufgrund neuer kriminaltechnischer Möglichkeiten unter Umständen neue Perspektiven für neue Ermittlungen.
Es ist zum Beispiel nicht auszuschließen, dass an vor 50 Jahren eingelagerten Asservaten Spuren haften, die heute zu einem verwertbaren genetischen Fingerabdruck führen.
„Cold Cases“ sind Ländersache
Zentral erfasst oder bearbeitet werden „Cold Cases“ laut Bundeskriminalamt nicht – sie sind Ländersache. Die Aufklärungsquote für Mord liegt den Polizeistatistiken zufolge seit Jahren aber bei gut 95 Prozent.
Das hieße im Umkehrschluss, wie der Wiesbadener Kriminalpsychologe Rudolf Egg einmal vorgerechnet hat: Von den bundesweit etwa 300 als Mord identifizierten Todesfällen pro Jahr, blieben 10 bis 20 ungelöst. Über die Jahre hinweg hätten sich so Hunderte angesammelt – die gar nicht erst erkannten Fälle nicht eingerechnet.
Die Polizei wäre vielleicht noch erfolgreicher, wenn sie alle Möglichkeiten beispielsweise von Künstlicher Intelligenz (KI) oder der modernen DNA-Analyse bei ihrer Arbeit nutzen könnte.
Aufgeklärt dank DNA-Analyse
Zahlreiche „Cold Cases“ können nur dank DNA-Analysen aufgeklärt werden, sofern es Spuren gibt. Vielerorts landet die Polizei inzwischen auch nur noch dann Treffer, wenn es neue Ermittlungsansätze oder neue Verdächtige gibt.
Lange durfte in Deutschland von DNA-Spuren nur das Geschlecht bestimmt werden, aber nicht äußere Merkmale wie Augen-, Haut- und Haarfarbe und das Alter. Seit Ende 2019 ist die sogenannte Phänotypisierung nun erlaubt – ein Täterprofil aus dem DNA-Labor quasi. Doch die Phänotypisierung gibt lediglich eine Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Aussehen an, beweissicher ist sie nicht.
Löst die Polizei dennoch wieder einen Fall, so hat das juristisch teils beachtliche Folgen: Oft wird gegen die inzwischen ergrauten Männer Jugendstrafrecht angewandt, wenn sie zur Tat noch minderjährig oder heranwachsend waren. Bei sehr alten und gebrechlichen Verdächtigen stelle sich zudem häufig die Frage nach der Haftfähigkeit, denn eine Sanktion wie den Hausarrest gibt es in Deutschland nicht.
DNA-Analyse kann mehr als erlaubt
Sebastian Grün arbeitet beim Bayerischen Landeskriminalamt (LKA) in München. Um die zehn „Cold Cases“ liegen derzeit auf dem Tisch des DNA-Analytikers, die er sich je nach Dringlichkeit aktueller Fälle immer mal wieder vornimmt. Der Biologe untersucht im Auftrag der jeweiligen Ermittler nahezu täglich DNA-Spuren und nimmt bei Bedarf Phänotypisierungen vor, doch er sieht noch mehr Möglichkeiten.
„Wenn wir eine unbekannte Spur haben, die wir keiner Person zuordnen können, dann könnte die Kenntnis der biogeografischen Herkunft der Polizei dabei helfen, in eine bestimmte Richtung zu ermitteln oder eben auch nicht“, erklärt Grün. Bislang dürfen der Biologe und seine Kollegen keine Daten zur biogeografischen Herkunft - also zu der Region, aus der die Vorfahren eines unbekannten Spurenverursachers stammen – gewinnen.
Dabei gebe es gute Gründe dafür: „Wenn man die Werte der biogeografischen Herkunft kennt, dann kann man diese Phänotypisierungswerte noch ein bisschen präzisieren. Das heißt, die Vorhersagen werden ein wenig präziser“, erklärt Grün. In anderen Ländern sei dieses Ermittlungstool erlaubt.
Forensische Archäologie bei neuen und alten Fällen
Etwa 3000 ungelöste Kapitalverbrechen gibt es in Deutschland. Manchmal verschwinden Menschen spurlos und Jahrzehnte später entdecken Pilzsammler oder Hunde Knochen in einem Wald. Ob diese absichtlich vergraben wurden, können Archäologen feststellen - wie Patricia van der Burgt vom Landesamt für Archäologie Dresden.
„Bei Knochen im Wald oder bei der Ausgrabung von illegalen Gräbern oder Erdverstecken kann es sehr hilfreich sein, einen Archäologen hinzuzurufen. Man kommt im Prinzip sogar schneller voran und hat danach ein Ergebnis, was wirklich zum größten Teil auch gerichtsverwertbar ist.“
Die forensische Archäologie sei in Deutschland noch sehr unbekannt. „Das Interessante ist, dass meistens gedacht wird, jeder kann graben. Das stimmt auch, aber es hakt meistens an der Dokumentation“, erläutert van der Burgt. „Und dann hat man gegraben und ist nicht ganz so planvoll vorgegangen.“ Es gebe Spezialisten für das Graben und an diese sollten Polizisten denken, wenn sie Knochen fänden.
Forensische Archäologen könnten Antworten liefern auf Fragen wie: „Wie wurde die Grabgrube angelegt? Wurde in Eile gegraben oder wurde das Grab bereits vor der Tat angelegt? Gibt es Spuren des Täters?“
BKA setzt auch auf Fahndung per Whatsapp und Werbefläche
Neben DNA-Experten oder Archäologen setzen Altfall-Ermittler mittlerweile auch verstärkt auf die Öffentlichkeitsfahndung. Sie sei längst heraus aus ihrem Schattendasein, erzählt Jörg Langner, Erster Kriminalhauptkommissar im Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden. „Früher haben viele Ermittler gesagt: ‚Wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann gehe ich in die Öffentlichkeitsfahndung.‘ Das ist beileibe nicht mehr so.“
Gerade im Bereich „Cold Cases“ könnten Ermittler über Medienpräsenz ältere Menschen erreichen, die zu einem lang zurückliegenden Verbrechen womöglich Hinweise hätten. Aber nicht nur Formate wie die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY . . . Ungelöst“ helfen den Ermittlern.
Seit dem Sommer nutzt das BKA bei Fahndungen auch den Messengerdienst Whatsapp, wo ein Großteil der Deutschen und damit zig Millionen Menschen erreicht werden können. Relativ neu sind Langner zufolge auch Fahndungen auf digitalen Werbeflächen etwa an Bahnhöfen. „Das macht sehr viel Druck auf den Täter und sein Umfeld.“
Deepfake-Videos als Ermittlungswerkzeug
Beim Thema Öffentlichkeitsfahndung lohnt mitunter auch ein Blick in Nachbarländer: Stichwort Deepfakes. Das sind mit Hilfe von KI erstellte Videos und Bilder, die von Kriminellen oftmals für Erpressungs- und Betrugsdelikte, Dokumentenfälschungen oder Finanzmarktmanipulationen genutzt werden. Deepfakes wirken authentisch, sind es aber nicht. Der KI-Einsatz sorgt dafür, dass die Stimme echt klingt und gesprochene Sprache und Mimik zueinanderpassen.
Auch aus polizeilicher Sicht habe diese Technik durchaus Potenzial, sagt Langner und verweist auf ein Beispiel aus den Niederlanden. 2003 wurde in Rotterdam ein 13-Jähriger getötet. Weil die Ermittler in dem Fall jahrelang nicht weiterkamen, veröffentlichten sie 2022 ein bemerkenswertes Video: Darin sucht das Opfer scheinbar selbst seinen Mörder. Die Polizei setzte damals erstmals die Deepfake-Technik für einen Zeugenaufruf ein.
Opfer appelliert an Mitwisser und Täter
Die Ermittler produzierten das Video auf der Grundlage eines Fotos des getöteten Jungen. Man sieht den 13-Jährigen auf einem Fußballplatz im Trainingsanzug. Er geht durch ein Ehrenspalier von Familie, Freunden, Lehrern und Trainern. „Er wollte Profifußballer werden“, erzählt seine Schwester in dem Film. „Der Traum ist weg. Denn Sedar lebt nicht mehr.“
Um endlich die Wahrheit zu erfahren, sei er „speziell für diesen Film zum Leben erweckt worden“. Und dann scheint der Junge gemeinsam mit seiner Schwester an die Zuschauer zu appellieren: „Weißt du mehr? Dann sprich jetzt.“
Auch wenn diese Methode etwas bizarr anmutet: „Es ist wichtig, bei Öffentlichkeitsfahndungen eine gewisse Empathie zu erzeugen“, erklärt Langner. „Die Bevölkerung lässt sich von Gefühlen leiten. Und je mehr Empathie ich erzeugen kann, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein potenzieller Hinweisgeber meldet.“