Wie geht es den ukrainischen Flüchtlingen in Backnang?

Mittlerweile leben etwa 330 ukrainische Flüchtlinge in Backnang und jede Woche steigt ihre Zahl um 10 bis 15 weitere Menschen an. Für alle steht das Erlernen der deutschen Sprache an erster Stelle, um sich im Alltag zurechtzufinden und einen Beruf ausüben zu können.

Svitlana (rechts) und Kateryna Yereshchenko leben seit sechs Monaten in Backnang und sind ihren Helfern sehr dankbar. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Svitlana (rechts) und Kateryna Yereshchenko leben seit sechs Monaten in Backnang und sind ihren Helfern sehr dankbar. Foto: Alexander Becher

Von Matthias Nothstein

Backnang. Der Krieg in der Ukraine tobt schon über ein halbes Jahr und der Flüchtlingsstrom hat zuletzt sogar nochmals zugenommen. In Backnang sind bislang etwa 330 Ukrainer registriert und jede Woche werden es zwischen 10 und 15 Personen mehr, die von der Landkreisverwaltung der Stadt zugewiesen werden. Sandra Amofah vom Backnanger Amt für Familie, Jugend und Bildung ist dort die Referentin für Integration und Flucht. Sie spricht gar von einem exponentiellen Anstieg und kennt die Gründe dafür. Das sind gar nicht einmal die Kämpfe in der Ukraine, die aktuell auf relativ überschaubare Regionen im Osten und Süden des Landes beschränkt sind. Ursache für den aktuellen Anstieg der Zuweisungszahlen ist vielmehr, dass Organisationen aus all jenen (Nachbar-)Ländern, die Flüchtlinge in riesiger Zahl bei sich aufgenommen haben, diese Menschen nun weiter nach Westen schicken. Die meisten ukrainischen Geflüchteten, die aktuell in Baden-Württemberg ankommen, haben zuvor bereits in Moldawien, Rumänien, Polen oder Tschechien Schutz gesucht.

Viele Geflüchtete sind bei Verwandten und Bekannten untergekommen

Von den 330 Flüchtlingen im Stadtgebiet hat ein Großteil bei Verwandten und Bekannten Unterschlupf gefunden. Oder sie sind in Wohnungen untergekommen, die von Privatpersonen zur Verfügung gestellt wurden. Amofah betont nochmals den großen Erfolg der städtischen Kampagne, mittels derer sofort nach Kriegsbeginn bei Hauseigentümern sehr offensiv dafür geworben wurde, Unterkünfte zu melden.

Seit Wochen reichen diese Plätze nicht mehr aus, weshalb die Gebäude Aspacher Straße 70/72 als Sammelunterkünfte eingerichtet wurden. Es handelt sich bei den Gebäuden ums frühere Jugendheim Haus Samba und um die oberen Etagen des früheren Bestattungshauses Zur Ruhe. In den beiden Gebäuden leben etwa 30 Personen, die Kapazität der beiden Häuser ist ausgereizt.

Die Dolmetscher und Betreuer leisten Hilfe zur Selbsthilfe

Erika Dorn kümmert sich in Backnang mit viel Herzblut um diese Flüchtlinge. Die 72-Jährige, die selbst 1993 als Spätaussiedlerin aus Kasachstan nach Deutschland gekommen ist und deren Vorfahren einst im Raum Odessa gelebt haben, kennt alle Menschen in den Unterkünften recht gut und unterstützt sie in allen Bereichen. Dabei nimmt sie den Geflüchteten nicht alle Aufgaben ab, sondern leistet Hilfe zur Selbsthilfe. So müssen die Ankömmlinge die Formulare zum Beispiel selbst ausfüllen, „ich kontrolliere dann, ob alles stimmt“, sagt Dorn.

Laut der Helferin würden die meisten ihrer Ansprechpartner zwar gerne eine Arbeit aufnehmen, aber de facto haben bislang nur wenige eine Anstellung erhalten. Die Gründe sind vielschichtig. Bei jenen, die in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch gekommen sind, handelt es sich oft um Frauen mit Kindern. Und bei jenen, die in den Monaten danach gekommen sind, hapert es zumeist noch an den Sprachkenntnissen, sie sind noch zu kurz im Land, um schon die Mindestanforderung erfüllen zu können. Amofah bestätigt denn auch, dass viele Betriebe sehr offen sind und auch Menschen mit sehr geringen Sprachkenntnissen einstellen würden, „aber ganz einfache Arbeitsanweisungen müssten verstanden werden“.

„Wir brauchen die Sprache zum Überleben“

Und Dorn ergänzt, dass die Ukrainer auch sehr willens sind, die deutsche Sprache zu erlernen. So berichtet sie etwa von einer 77-Jährigen, die sich trotz des Alters sofort für einen Sprachkurs angemeldet hat. Sie zitiert die gebildete Frau mit den Worten: „Wir brauchen die Sprache zum Überleben.“ Auch besuchen viele Kinder neben der Schule Sprachkurse, um sich möglichst schnell in der neuen Heimat verständigen und in der Schule Schritt halten zu können. Wie gut dies funktioniert zeigt das Beispiel von Kateryna Yereshchenko, die zusammen mit ihrer Mutter Svitlana in einem Backnanger Hotel untergekommen ist. Die 15-Jährige hat parallel zu den ukrainischen Online-Hausaufgaben in der Mörikeschule fleißig Deutsch und Englisch gebüffelt und so schnell ein Niveau erreicht, mit dem sie nach den Sommerferien die 10. Klasse des Max-Born-Gymnasiums besuchen kann.

Ein großes Problem für die Flüchtlinge, die arbeiten wollen, ist die Anerkennung der Berufsabschlüsse. Je höher die Menschen qualifiziert sind, desto aufwendiger ist es, die Abschlüsse in Deutschland anerkennen zu lassen. Aber genau das ist wichtig, um in Deutschland im erlernten Beruf wieder Fuß fassen zu können. Bei all jenen Berufen, die man anerkennen lassen muss, läuft das Anerkennungsverfahren über das Regierungspräsidium. Alle Dokumente aus der Heimat, wie Studienabschlüsse, müssen übersetzt werden, bevor die Behörde einen Bescheid erlässt. Da geht es dann auch um Studieninhalte. Amofah erläutert: „Dann wird überprüft, was etwa in der Betriebswirtschaftslehre tatsächlich gemacht wurde, damit man überschauen kann, ob der Abschluss deckungsgleich ist mit dem, was bei uns an den Hochschulen gelehrt wird.“

Eine Beglaubigung erleichtert den Weg in die Arbeit

Aber auch bei den Berufen, bei denen eine Anerkennung nicht vorgeschrieben ist, macht eine Beglaubigung Sinn, weil sich die Betriebe dann laut Amofah leichter tun, einen Mitarbeiter einzustellen. Ein deutsches Dokument, das belegt, dass die Ausbildung vergleichbar ist mit der eines Gesellen oder Meisters in Deutschland, ebnet auf jeden Fall den Weg, so die Erfahrung aller Helfer.

Auch Olga Arlt unterstützt die Flüchtlinge unentwegt. Die 40-Jährige lebt seit 2003 in Backnang, geboren wurde sie im heute umkämpften Gebiet in der Ostukraine. Nun sagt sie: „Die Sprachbarriere ist die größte Hürde. Wenn die Flüchtlinge keine direkte Betreuung haben, dann tun sie sich in dem fremden Land sehr, sehr schwer.“ Viele versuchen zwar, sich mit Google-Übersetzungen oder Englisch durchzuboxen. Aber wenn sie auf sich alleine gestellt sind, wissen sie nicht, wohin sie sich als erstes wenden sollen. Groß ist auch die Sorge, sich mit den noch zu geringen Sprachkenntnissen zu blamieren. Deshalb glaubt Arlt, dass es noch ein wenig Zeit braucht, „man kann das Wissen nicht in die Leute reinprügeln“, gibt sie zu verstehen.

Das Erlebte muss verarbeitet werden

Auch sie bestätigt, dass der Wunsch bei allen vorhanden ist, wieder zu arbeiten. Aber sie hat auch Verständnis dafür, dass jemand, der in der Ukraine als Ingenieur gearbeitet hat, in Deutschland nicht putzen gehen will. Und Dorn sagt: „Diejenigen, die arbeiten, die sind wieder unter Menschen. Sie suchen einen Job, um sich wieder als Mensch zu fühlen. Sie haben ihr gesamtes Leben gearbeitet, sie wollen auch jetzt wieder selber etwas leisten und nicht einfach rumsitzen und abwarten.“

Noch ein Aspekt ist Arlt wichtig: Viele Menschen haben Bombardierungen erlebt und alles verloren, was sie sich über Jahrzehnte aufgebaut haben: „Irgendwann werden das Leid und der psychische Druck so groß, dass sie es nicht mehr aushalten und fliehen.“ In Deutschland angekommen müssen sie nicht nur das Erlebte verarbeiten, sondern auch mit Alltagsproblemen klarkommen. „Sie verstehen die Sprache nicht, sie haben kein Geld und kein Auto und alles ist fremd. Auch wenn sie hier in Sicherheit leben können, wenn sie ein Dach überm Kopf und genug zu essen haben, so bleiben doch die Ängste, wie’s weitergeht.“

Die Berufsanerkennung dauert mitunter viele Monate

Erzieherinnen Die Zeugnisanerkennungsstelle des Regierungspräsidiums Stuttgart ist zuständig für die Anerkennung gleichwertiger Berufsqualifikationen zur/zum staatlich anerkannten Erzieherin/Erzieher oder Kinderpflegerin/Kinderpfleger in Baden-Württemberg. Erzieher mit ausländischen Bildungsnachweisen benötigen für ihre Berufsausübung eine Anerkennung von der zuständigen Stelle, in diesem Fall durch das Regierungspräsidium. Seit März wurden zehn Anträge von ukrainischen Geflüchteten mit der Möglichkeit der vollständigen Anerkennung als Erzieherin durch eine Nachqualifizierung beschieden. Drei Anträge wurden nicht als gleichwertig bewertet.

Zusatzkräfte Die Träger von Kindertageseinrichtungen können neben den Fachkräften auch sogenannte Zusatzkräfte einstellen. In diesem Fall ist kein Anerkennungsverfahren durch das Regierungspräsidium notwendig. Über die pädagogische Eignung der Zusatzkraft entscheidet der Träger einer Kindertageseinrichtung.

Gesundheitsberufe Des Weiteren ist das Regierungspräsidium die zuständige Anerkennungsbehörde für die akademischen und nicht akademischen Gesundheitsberufe. Herkunftsländer, aus denen die Antragssteller stammen, werden in der Statistik der Behörde zur Anerkennung der akademischen und nicht akademischen Gesundheitsberufe nicht erfasst. Daher können keine Angaben über Zahlen gemacht werden.

Langer Prozess Die Anerkennung von Gesundheitsberufen ist via Bundesgesetz geregelt: Der Anerkennungsprozess – vor allem im Bereich der akademischen Gesundheitsberufe, aber auch der Gesundheitsfachberufe – ist ein längerer Prozess, sodass jetzt, sechs Monate nach Kriegsausbruch, in der Regel noch nicht mit einer Anerkennung der Gesundheitsfachberufe gerechnet werden kann, da in der Regel Anpassungsmaßnahmen durchgeführt werden und für die Tätigkeit in einem Gesundheitsberuf ausreichende deutsche Sprachkenntnisse vorhanden sein müssen.

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Erstellt:
7. September 2022, 06:00 Uhr

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