Wie kam das Messer in die Fanzone?
Das Landgericht verhängt für die Messerattacke bei der EM neuneinhalb Jahre Haft. Ein Opfer hat nach der Tat das Land verlassen.
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Die Polizei geht nach dem Angriff mit einem starken Kräfteaufgebot in die Menge auf dem Schlossplatz
Von Christine Bilger
Stuttgart - Das Urteil ist gesprochen: Ein 26 Jahre alter Mann, der bei einer EM-Liveübertragung auf dem Stuttgarter Schlossplatz mit einem Messer sechs Männer angegriffen und drei von ihnen verletzt hatte, muss für neun Jahre und sechs Monate in Haft. Obwohl die 1. Große Strafkammer klar auf versuchten Mord in drei tateinheitlichen Fällen und versuchten Totschlag in drei weiteren Fällen erkannte, bleiben Fragen offen.
Letztlich nicht geklärt ist etwa, wie der Mann das Messer auf das gut bewachte Gelände der sogenannten Fanzone bringen konnte. Eigentlich wurde an den Eingängen zu dem umzäunten Bereich auf dem Stuttgarter Schlossplatz am Eingang gründlich kontrolliert – so gründlich, dass sich einige Besucherinnen und Besucher sogar daran störten, abgetastet zu werden und die Taschen vorzeigen zu müssen. Dennoch kam der Mann mit einem Messer mit sieben Zentimeter Klingenlänge auf das Gelände – die Tatwaffe. Er habe es „gewohnheitsmäßig“ am Schlüsselbund gehabt. Ob er es an diesem Tag gezielt an seinem Körper verbarg, weiß man nicht. Ebenfalls im Unklaren bleibt aus Sicht der Kammer letztlich das Motiv. Zunächst hatte es so ausgesehen, als habe der Mann aus Hass auf die Türkei gehandelt. Das erschien der Kammer nicht schlüssig. Der Mann stammt aus Syrien, und bekanntermaßen bestehen im Grenzgebiet und in den Flüchtlingslagern in der Türkei auch Konflikte zwischen Syrern und Kurden. Jedoch gebe es im Zusammenhang mit der Tat keine konkreten Hinweise auf ein Motiv – auch wenn er Männer angriff, die Trikots oder Fahnen trugen, mit denen sie sich als Fans der türkischen Nationalmannschaft klar zu erkennen gaben.
Der Syrer hatte die Tat grundsätzlich eingeräumt und sich auch bei einem Opfer entschuldigt. „Ich habe einen Fehler gemacht, das tut mir leid“, sagte er, als der Mann, der am schwersten verletzt worden war und nach der Attacke in Lebensgefahr geschwebt hatte, im Zeugenstand war und über den Schrecken jener Nacht im Juni berichtete. Aber mehr hatte er zur Tat nicht gesagt. Ein Gutachter war zu dem Schluss gekommen, dass er voll schuldfähig sei, und hatte keine psychische Erkrankung festgestellt. Sein Verteidiger Stefan Holoch hatte für eine Haftstrafe von acht Jahren plädiert, weil er meinte, sein Mandant sei psychotisch. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Strafmaß von 13 Jahren Haft gefordert. Ihr schloss sich der Anwalt Andreas Baier als Vertreter der vier Opfer, die als Nebenkläger in dem Fall auftraten, an. Die Staatsanwaltschaft war beim Anklagevorwurf von versuchtem Mord in sechs Fällen geblieben.
An jenem Abend sei der Täter zunächst mit einem Freund von Besigheim, wo er wohnte, mit der Bahn nach Stuttgart gefahren. Aus dem Zug sei er vorher mit den Worten ausgestiegen, man müsse alle Türken schlagen – wohl, weil schon am Nachmittag viele Türkei-Fans auf dem Weg waren, um in der Stuttgarter City zu feiern. Er habe in dem Zusammenhang von einem gestohlenen Handy gesprochen. Später sei er dann doch nach Stuttgart gefahren. Die Angriffe in der Fanzone spielten sich binnen 90 Sekunden ab. Dann ergriff ein Polizist, der privat dort war, den Mann und brachte ihn zu Boden.
Die Angegriffenen leiden noch heute unter den Folgen. Der 39-jährige Mann, den es als Ersten traf, hat bis heute psychische Probleme. Er kann nicht in Menschenmengen und arbeitet immer noch nicht. Einen anderen hat die Tat so sehr verunsichert, dass er sich hier nicht mehr wohlfühlt. Hinzu kam, dass Mieter in seinem Haus in eine Messerstecherei an der Königstraße verwickelt waren. Er verließ Deutschland und ging in die Türkei.