Verschickungskinder
Wie Sommerferien im Heim zum Albtraum wurden
Ein Stück dunkle Nachkriegsgeschichte: Millionen Kinder wurden über Jahrzehnte zur Kur geschickt. Viele erlebten dabei seelische Grausamkeiten, wie Missbrauch und Isolation. Lange wurden diese Missstände verschwiegen. Eine Betroffene erzählt.
Von dpa
Es sind düstere Erinnerungen, die Bettina Rosenberger mit dem Jahr 1975 verbindet: die Sommerferien in dem sogenannten Erholungsheim im Schwarzwald. Sie habe sich mit ihren damals 12 Jahren wie im Gefängnis gefühlt, erzählt sie. Zwölf Stunden Nachtruhe sei dort verordnet worden. Kein Toilettengang sei erlaubt gewesen, kein Laut, kein Kichern.
„Wer beim Tuscheln erwischt wurde, musste zwei Stunden auf dem kalten Flur stehen.“ Die heute 61-Jährige erinnert sich an die Verbote, an das schlechte, fettige Essen. Briefe der Kinder an die Eltern über die Zustände seien zensiert worden.
Betroffene haben noch immer mit den Nachwirkungen zu kämpfen
Die Sommerferien im Jahr 1975 hätten sie für immer verändert, erzählt Bettina Rosenberger. Vorher sei sie ein fröhliches, offenes Kind gewesen - aber stumm und traurig sei sie aus dem Heim zurückgekehrt. Bis heute sei sie „ultraangepasst“, passe häufig auf, dass sie ja nichts falsch mache. Und vor jeder Beschäftigung gehe sie noch mal auf Toilette, so sehr habe sich das Verbot im Heim bei ihr eingeprägt.
Rund eine Million Menschen in Baden-Württemberg sind in ihrer Kindheit nach Schätzung von Forschern in sogenannte Erholungs- oder Kurheime geschickt worden. Mehr als jedes zweite dieser sogenannten Verschickungskinder erfuhr dabei Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch, wie eine Projektgruppe des Landesarchivs nun berichtet.
Die Verschickung war als Gesundheitshilfe gedacht. Ärzte schickten beispielsweise Kinder in die Heime, die als zu dünn galten, unter Bewegungsmangel litten oder chronisch krank waren. Betrieben wurden die Einrichtungen von privaten sowie öffentlichen Trägern, von Kirchen, der Arbeiterwohlfahrt, Landkreisen oder Städten.
Aufarbeitung der Geschehnisse
Die Forscher der Projektgruppe in Baden-Württemberg arbeiteten zweieinhalb Jahre lang die sogenannte Kinderverschickung im Südwesten vom Ende der 1940er Jahre bis in die 1990 Jahre gemeinsam mit rund 100 Betroffenen auf. Bettina Rosenberger aus Fellbach ist eine davon.
Ihre Eltern seien damals sehr jung gewesen, berichtet sie. „Bei Eheproblemen hat man die Kinder gern aus dem Weg geschafft“, sagt die 61-Jährige. Auch ihr Bruder sei ins Heim geschickt worden. Ein Arzt hatte damals bei ihren Eltern dafür geworben, dass das Heim eine Art kostenloser Urlaub für die Kinder wäre. Außerdem sei Bettina zu dünn gewesen, so Rosenberger. „Dabei war ich im Schwimmverein, war weder schwächlich noch kränklich.“
Bis zu 12 Millionen Verschickungskinder
Experten schätzen die Zahl der Verschickungskinder bundesweit auf 8 bis 12 Millionen. Betroffene berichteten den Forschern von Schlägen, Essenszwang, Kollektivstrafen, sexualisierter Gewalt und der unerlaubten Gabe von Medikamenten. Telefongespräche nach Hause waren demnach unerwünscht.
Viele Kinder kehrten traumatisiert nach Hause zurück. „Die Heime waren chronisch unterfinanziert, die staatliche Aufsicht nur spärlich existent“, sagte Projektleiter Christian Keitel bei der Vorstellung der Ergebnisse in Stuttgart. „Die Kinder hatten schreckliche Angst, viele dachten, sie kommen gar nicht mehr zurück nach Hause.“
Missstände rückten erst später in die Öffentlichkeit
Die Experten erstellten ein Verzeichnis der Heime im Südwesten. Sie zählten bislang rund 470 Einrichtungen für den Zeitraum zwischen 1949 und 1980. Es kämen aber immer noch welche hinzu. Ein Großteil der Einrichtungen befand sich im Schwarzwald, allein im Schwarzwald-Baar-Kreis gab es 56 Heime. Zu diesem Thema ist bis zum 6. Dezember auch eine Ausstellung im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart zu sehen.
Erst in den vergangenen Jahren rücken die Missstände mehr und mehr ins Blickfeld der Öffentlichkeit. „Die Kinder haben damals nicht den Raum bekommen, um darüber zu sprechen - sie wurden nicht ernst genommen wie heute“, sagte die Projektmitarbeiterin Corinna Keunecke.
Die Kinder behielten die Erfahrungen meist für sich
Auch Bettina Rosenberger findet nach ihrer Rückkehr nicht die Kraft, ihren Eltern von ihren schlimmen Erfahrungen zu berichten. Als ihr Vater sie am Stuttgarter Bahnhof am Ende der Sommerferien abholt, bricht sie in Tränen aus - der Vater denkt allerdings, sie sei traurig, dass die Zeit im Heim vorbei ist.
Die damals 12-Jährige erzählt ihren Eltern, dass sie nie wieder ins Heim wolle, aber nicht warum. „Ich wollte ihnen kein schlechtes Gewissen machen“, so die heute 61-Jährige. „Sie konnten ja nichts dafür.“ Erst sehr viel später arbeitet sie das Leid für sich selbst auf. Seit 2021 ist sie in einer Selbsthilfegruppe für Verschickungskinder, die ihr sehr hilft. „Damit man aus der Opferrolle herauskommt.“