Wie viel zählt der Tierschutz?
Jonathan Steinhauser zieht vors höchste Landesgericht
Justiz - Ein Tierschützer dringt in einen Putenstall ein, weil er dort eklatante Missstände vermutet – und wird wegen Hausfriedensbruchs verurteilt. Der Fall beschäftigt nun das Verfassungsgericht.
STuttgarT Es ist kurz vor Mitternacht am 10. Mai 2015. Noch sieht es nach einem Routineeinsatz für Jonathan Steinhauser und seine beiden Mitstreiter aus. Keiner ahnt, dass die Sache gleich aus dem Ruder laufen wird. Fast jedes Wochenende fahren Jonathan, Theresa H. und Thilo H. mit einem Corsa durchs Land. Vermuten die Tierschützer vom Tübinger Verein Act for Animals, dass es in einem Stall nicht mit rechten Dingen zugeht, filmen sie die Missstände und bieten die Videos Fernsehsendern an. Ihre Aufnahmen wurden beispielsweise in der SWR-Sendung „Zur Sache Baden-Württemberg!“ und in „ARD exklusiv“ gezeigt.
Wie wird man zum Tierschutzaktivisten? Jonathan Steinhauser, Jahrgang 1992, wächst in Monakam auf, einem Dorf im Schwarzwald. Als Bub kickt er in der örtlichen Sportgemeinschaft, sonntags verspeist er seinen Rostbraten gerne medium. Erst im Ethikunterricht am Gymnasium beschäftigt ihn die Frage: Handelt der Mensch richtig, wenn er Tiere züchtet, um sie zu essen?
Nein, ist Jonathan überzeugt, nachdem er sich durch einen Stapel philosophischer Literatur gelesen hat. In Tübingen, wo er Politikwissenschaft studiert, wird er Mitglied von Act for Animals. In seiner Bachelorarbeit stellt er dar, warum der Staat davon wegkommen muss, Tiere als Produktionsmittel und Privateigentum zu betrachten.
In jener Nacht im Mai 2015 entdeckt er vor einem Mastbetrieb in Ilshofen-Ruppertshofen mehrere große Mülltonnen, in denen Putenkadaver liegen. Für ihn ein Indiz, dass das Geflügel in den Stallungen tödlich leiden muss. Steinhauser und sein Mitstreiter Thilo H. ziehen sich Schutzanzüge an, wie sie Kriminalisten bei der Spurensicherung nach einem Mord tragen, Mund und Nase verschwinden hinter Atemmasken. Dann schalten sie ihre Kameras ein.
Hinter den unabgeschlossenen Türen filmen sie Puten, die zusammengepfercht in ihrem eigenen Kot stehen. Die Schnäbel wurden gekürzt, damit sie sich nicht gegenseitig verletzen. Manchen fehlt dennoch das Gefieder, stattdessen sieht man blutige Wunden. Manche können sich nicht mehr auf den Beinen halten, brechen unter dem Gewicht ihres eigenen Fleischs zusammen.
Knapp drei Jahre später: Jonathan Steinhauser sitzt in einem Frankfurter Café vor einer Tasse Tee. Er ist jetzt 26 und macht bald seinen Master. Er könnte ein unbeschwertes Studentenleben führen, wenn er sich nicht um das Schicksal von 24 000 Puten gesorgt hätte. „Ich habe mich jahrelang für den Tierschutz engagiert, um dabei mitzuhelfen, ein gesellschaftliches Umdenken zu bewirken“, sagt er. „Und durch einen einzigen dummen Fehler wurde diese ganze Arbeit womöglich zerstört.“
11. Mai 2015, 0.32 Uhr. Theresa H., die vor dem Putenstall Schmiere steht, meldet sich über das Funkgerät: „Haut ab, da kommt ein Mann!“ Jonathan Steinhauser findet einen Hinterausgang, flieht übers Feld. Thilo H. läuft vorne raus – und dem Betriebsleiter direkt in die Arme. Der ist mit einem Stock bewaffnet, schlägt auf Thilo ein und entreißt ihm eine Wärmebildkamera. Thilo will das teure Gerät nicht zurücklassen. Er sprüht dem Mann Tränengas ins Gesicht.
Wie wäre das Strafverfahren wohl ausgegangen, wenn es nicht zu dieser Körperverletzung gekommen wäre? Bisher mussten Aktivisten, die illegal einen Stall betreten, kaum Konsequenzen befürchten. Denn erstens gilt der Tierschutz als wichtiges Rechtsgut, das sogar im Grundgesetz verankert ist. Und zweitens wiegt das öffentliche Interesse an der Aufdeckung von Missständen in Agrarbetrieben höher als der Strafbestand des Hausfriedensbruchs.
Am 3. März 2016 um 9.05 Uhr beginnt vor dem Amtsgericht Schwäbisch Hall der Prozess gegen Jonathan Steinhauser und Thilo H. Der Putenmäster lässt sich als Nebenkläger von Rechtsanwalt Walter Scheuerl vertreten. Steinhauser hat Hans-Georg Kluge aus Berlin an seiner Seite. Zu Beginn der Verhandlung bietet ihm der Richter die Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldbuße von 250 Euro ein. Damit wäre die Angelegenheit ohne weitere Folgen erledigt. Doch der Student will seinen Kumpel Thilo H. vor Gericht nicht im Stich lassen und lehnt den Deal ab. Zumal sein Anwalt Kluge davon überzeugt ist, dass die Verhandlung mit einem glatten Freispruch enden wird.
Man kann Steinhauser nicht verdenken, dass er seinem Verteidiger folgt, dessen Honorar von mehreren Tierschutzstiftungen übernommen wird. Der Student kann ja nicht voraussehen, dass den Richter die Ausführungen des Agraranwalts Scheuerl mehr überzeugen. Am Ende der Verhandlung steht eine Geldstrafe von 250 Euro für Jonathan Steinhauser, der Haupttäter Thilo H. erhält eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung.
Die Angeklagten legen Berufung ein. Anwalt Kluge ist davon überzeugt, dass das Urteil in der nächsten Instanz korrigiert wird – und täuscht sich abermals. Die Richterin am Landgericht Heilbronn vertritt die Auffassung, dass es „allgemein anerkannt“ sei, „dass die Mast in Massentierhaltungen nicht artgerecht erfolgen kann“ und daher „einer Vielzahl von Tieren auch Schmerzen zugefügt werden“. Es könne nicht geduldet werden, dass einzelne Bürger selbst tätig würden und durch Straftaten dafür sorgten, dass Massentierhaltung abgeschafft werde.
Jonathan Steinhauser ist niemand, der sich als Justizopfer darstellt. „Mein Eindruck war, dass die Richterin meine Motivation verstand, ihr schienen die Tiere auch leidzutun“, sagt er rückblickend. „Aus meiner Sicht ist es völlig rätselhaft, wie sie eine solche Urteilsbegründung verfassen konnte, die die Verbindlichkeit des Tierschutzgesetzes im Bereich der Massentierhaltung weitgehend untergräbt.“
Am 4. September 2018 bestätigt das Oberlandesgericht Stuttgart das Urteil. Von diesem Tag an ist es rechtskräftig – und Jonathan S. wegen Hausfriedensbruchs vorbestraft. Die Justiz hat den Standpunkt eingenommen, dass die Veterinärämter und nicht Privatleute für Kontrollen in Ställen zuständig sind. Das Problem: Den Behörden fehlt das Personal. Laut einer Statistik der Bundesregierung müssen die 82 698 baden-württembergischen Nutztierbetriebe im Schnitt nur alle 19,3 Jahre mit einer Kontrolle nach den Vorgaben der EU rechnen – und die Visiten werden in der Regel vom Veterinäramt zuvor angekündigt. Schwere Verstöße können so kaum entdeckt werden.
Richtig prekär wird es für die Agrarunternehmer hingegen, wenn die Undercover-Recherchen von Tierschützern öffentlich werden. So zeigten das ARD-Magazin „Panorama“ und der „Spiegel“ vor zwei Jahren schockierende Aufnahmen, die sie von den Organisationen Animal Rights Watch und Peta erhalten hatten: Schweine mit abgebissenen Schwänzen und vereiterten Augen, Puten, die sich gegenseitig blutig gepickt hatten. Betroffen von den Vorwürfen waren unter anderem der Vorsitzende des Zentralverbands der Deutschen Schweineproduktion, eine Stallung des Chefs des Verbands Deutscher Putenerzeuger sowie Familienbetriebe von drei CDU-Bundestagsabgeordneten. Kurz darauf zeigte „Stern TV“ Bilder aus der Steinfurter Schweinemast der Familie Schulze Föcking von Tierretter.de. Die nordrhein-westfälische Landwirtschaftsministerin Christina Schulze Föcking (CDU) trat daraufhin zurück.
Für die Tierschutzorganisationen waren die Beiträge eine große Genugtuung – wird ihnen von Bauernverbänden und konservativen Politikern doch stets vorgeworfen, spezielle Einzelfälle aufzubauschen und damit eine ganze Branche zu verunglimpfen. So sagte der baden-württembergische Agrarminister Peter Hauk (CDU) im Juni 2016: „Landwirte sind Nahrungsmittelproduzenten. Ich werde nicht zulassen, dass sie von Organisationen wie Peta ständig als Tierquäler an den Pranger gestellt werden!“
Das Oberlandesgericht Naumburg sah die Sache im vergangenen Jahr anders als die Politik. Es sprach mehrere Aktivisten in letzter Instanz frei. Der „von ihnen bezweckte Tierschutz ist ein notstandsfähiges Rechtsgut“, befanden die Richter. Auf dieses und ähnliche Urteile stützt sich jetzt auch Jonathan Steinhauser.
Er hat eine letzte Hoffnung, das – formal abgeschlossene – Verfahren doch noch unbescholten zu überstehen. Sein Anwalt Hans-Georg Kluge reichte Beschwerde beim baden-württembergischen Verfassungsgerichtshof ein. Die Urteile vom Amtsgericht Schwäbisch Hall, vom Landgericht Heilbronn und vom Oberlandesgericht Stuttgart sollen revidiert werden. Das von baden-württembergischen Gerichten gefällte Urteil, argumentiert er, „rührt an den Grundfesten des deutschen Tierschutzrechts“. Daher habe es „eine besondere Bedeutung über den Einzelfall hinaus“.