„Wir dürfen die Eltern nicht ersetzen“
Wir sind Familie (11): Im SOS-Kinderdorf in Schorndorf-Oberberken lebt Caroline Fritz als Kinderdorfmutter mit mehreren Kindern, die aus schwierigen Verhältnissen stammen, in einem Haus – oft für mehrere Jahre.
Von Kristin Doberer
SCHORNDORF. „Mutti, kann ich mich morgen mit einem Freund treffen?“, fragt der Junge mit dem Telefonhörer am Ohr. Caroline Fritz bejaht. Ganz bewusst lässt sie sich als „Mutti“ anreden, nicht als Mama oder Mutter. Denn die fünf Kinder, die mit ihr in dem Haus im SOS-Kinderdorf leben, sind nicht ihre leiblichen. Sie ist eine Kinderdorfmutter und kümmert sich um Kinder, die aus schwierigen Familienverhältnissen kommen und im SOS-Kinderdorf in Schorndorf-Oberberken auf unbestimmte Zeit leben. Die Kinder kommen aus den verschiedensten Gründen in das Kinderdorf. Oft sind es psychische Erkrankungen, Suchtprobleme oder Gewalt vonseiten der Eltern. Die Kinder kommen in den verschiedensten Altersgruppen, zum Teil auch schon als Säuglinge, und bleiben häufig für mehrere Jahre, bis sie – im besten Fall – wieder in ihre Familie zurückkönnen oder auch bis sie 18 oder 21 Jahre alt sind und für sich selbst Verantwortung übernehmen.
Für Caroline Fritz bedeutet das Leben in einer Familie vor allem Sicherheit, Halt und das offene Sprechen über wichtige Entscheidungen. Das habe sie selbst von ihrem Elternhaus mitbekommen und das will sie nun an die Kinder im Dorf weitergeben. Und häufig gelingt ihr das auch. Zu einigen ihrer ehemaligen Schützlinge hat sie noch regelmäßig Kontakt. „Vor allem, wenn sie selbst Kinder bekommen, rufen sie gerne bei mir an und fragen zum Beispiel um Rat“, sagt Fritz.
Die Kinder würden sie als Ersatzmutter sehen, die Struktur und Halt gibt und die Verantwortung übernimmt. Die emotionale Bindung zwischen ihr und ihren Schützlingen entwickle sich mit der Zeit ganz natürlich und nicht bei allen Kindern gleich stark. „Die Kinder bestimmen selbst, wie viel Nähe sie zu mir möchten. Vor allem in der Pubertät distanzieren sie sich von selbst etwas.“ Wie eng die Beziehung wird, hängt häufig auch vom Alter der Kinder ab. Je jünger sie sind, desto mehr Nähe würden sie auch einfordern. So habe sie zum Beispiel ein Mädchen bereits mit zwei Jahren bekommen, sie ist jetzt 13 und lebt noch immer bei ihr. „Man darf sie aber zu nichts drängen und sich schon gar nicht als Elternteil präsentieren. Auch wenn man als Kinderdorfmutter manchmal auch etwas mehr Nähe möchte.“
„Wir dürfen die Kinder nicht in einen Loyalitätskonflikt bringen.“
In solchen Fällen müsse man sich selbst gut reflektieren können, sagt sie, und auch entsprechend reagieren. „Das kommt dann mit der Erfahrung. Spätestens beim ersten Abschiednehmen merkt man, dass man auch sich selbst schützen muss.“ Es sei trotzdem immer schwer, wenn die sie die Kinderdorffamilie wieder verlassen.
Caroline Fritz hat eine ganz klassische Ausbildung zur Erzieherin gemacht und in einem Kindergarten gearbeitet. Mit Mitte 20 hat sie sich dann für einen gewagten Schritt entschieden. „Ich wollte Kindern einfach noch mehr anbieten. Und solchen Kindern helfen, die mit mehr Schwierigkeiten kämpfen als andere“, sagt die 43-Jährige. Auf eine Anzeige hat sie dann ein Jahr als Erzieherin im SOS-Kinderdorf mitgearbeitet, bevor sie sich für die Stelle als Kinderdorfmutter entschieden hat. „Das ist eine Lebensentscheidung“, sagt Rolf Huttelmaier, der Leiter der Einrichtung. „Den Kinderdorfmüttern muss bewusst sein, dass Leben und Arbeiten hier zusammenhängen und dass das Privatleben dadurch belastet werden kann.“ Das sei aber nicht die einzige Herausforderung. Eine funktionierende Tagesstruktur für die Familie zu finden, sei nicht einfach.
Und auch der Umgang mit den Eltern gestalte sich häufig schwierig, und doch sind eine respektvolle Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Familien der Kinder wichtig für deren Wohl. „Es ist wichtig, dass weder Eltern noch Kinder denken, dass ich jemandem den Platz wegnehme und die Mutter ersetze“, sagt die Kinderdorfmutter. Das Ziel sei, dass die Kinder irgendwann wieder zu ihrer Herkunftsfamilie zurückkönnen. Das könne nur dann funktionieren, wenn die Eltern ebenso wie die Kinder und das Jugendamt bei allen Entscheidungen einbezogen werden und nicht von den Mitarbeitern des SOS-Kinderdorfs stigmatisiert werden, „auch wenn das nicht immer leichtfällt. Schließlich bekommt man als Kinderdorfmutter auch mit, wenn die Eltern zum Beispiel verletzend waren“, sagt Fritz.
Diese Balance zu finden, erweise sich vor allem bei traditionellen Familienfesten wie zum Beispiel Weihnachten als herausfordernd. Denn hier treffen sich viele Kinder mit ihren Eltern, und die Traditionen der Herkunftsfamilie treffen auf die der Kinderdorffamilie. „Für die Kinder ist es ganz wichtig, dass sie nicht in einen Loyalitätskonflikt zwischen ihren Eltern und der Kinderdorffamilie geraten“, betont Huttelmaier.
Und auch wenn die Kinder, die zusammen mit ihr leben, nicht verwandt sind, entwickelten sich schnell geschwisterliche Beziehungen unter ihnen. „Im einen Moment streiten sie, im nächsten halten alle wieder zusammen“, sagt Fritz. Als in den vergangenen Wochen alle wegen Corona im Homeschooling waren, sei es für sie zwar anstrengend, vor allem aber interessant gewesen. „Wir haben – wie viele andere Familien wohl auch – viele Brettspiele miteinander gespielt und viel Zeit zusammen verbracht.“
Eines ist für die Hausmutter aber klar: Ganz alleine kann sie sich nicht um die fünf Kinder in ihrem Haus kümmern. Als Unterstützung stehen mehrere Erzieherinnen bereit, die immer wieder die Aufsicht übernehmen, wenn die Kinderdorfmutter frei hat. Auch springen die Erzieherinnen bei Terminen ein und fahren die Kinder zum Beispiel zum Therapeuten, zur Musikschule oder zum Fußballtraining. „Bei manchen Themen ist eine bestimmte Erzieherin auch die bessere Ansprechpartnerin für die Kinder. Es geht aber nur über Teamarbeit und viele Absprachen“, sagt Fritz. Regelmäßig trifft sich das Team, um gemeinsam die Entwicklung der Kinder zu besprechen, Beobachtungen zu teilen und neue Ziele für die Zukunft der Kinder zu setzen.