Erik und Lyle Menendez

„Wir haben furchtbare Geheimnisse gehütet“

Was muss passieren, damit man seine Eltern ermordet? Die Geschichte der Menendez-Brüder beschäftigt über 30 Jahre später nicht nur Netflix – der Fall könnte auch neu aufgerollt werden.

Warum töten zwei junge Männer ihre Eltern? Erik Menendez 1993 im Gerichtssaal.

© Die Brüder Menendez/Courtesy of Netflix

Warum töten zwei junge Männer ihre Eltern? Erik Menendez 1993 im Gerichtssaal.

Von Theresa Schäfer

Gerichtsjournalisten nennen ihn den „kleinen Bruder des O.J. Simpson-Prozesses“ – der Fall der Menendez-Brüder Lyle und Erik. Wie bei Simpsons Mordprozess wurde die erste Gerichtsverhandlung im Jahr 1993 live im Fernsehen übertragen. Und wie bei O.J. schockierte die Brutalität der Tat ein ganzes Land.

Am 20. August 1989, kurz vor Mitternacht geht bei der Polizei von Beverly Hills ein Anruf ein: „Jemand hat meine Eltern getötet!“, schreit Lyle Menendez in den Hörer. Den Polizisten, die in dieser warmen Sommernacht in der Luxusvilla in Los Angeles’ Nobelviertel eintreffen, bietet sich ein schreckliches Bild: Überall Blut, die Körper des Filmmoguls José Menendez und seiner Frau Kitty von Kugeln geradezu durchlöchert. Auch die True-Crime-Dramaserie „Monsters“ bei Netflix schont den Zuschauer nicht, wenn sie den Tatort zeigt.

Die echten Menendez-Brüder sitzen seit Jahrzehnten im Gefängnis. Den Netflix-Erfolg „Monsters“ von „American Crime Story“-Macher Ryan Murphy nennt Erik Menendez in einem Statement „unehrlich“, „furchtbar“ und eine „enttäuschende Verleumdung“. Mitgewirkt haben sie aber bei einer Dokumentation, die am Montag ebenfalls bei Netflix an den Start gegangen ist. „Ein Teil von uns ist in dieser Nacht gestorben“, sagt Lyle in eingespieltem Audiomaterial, das der Filmemacher Alejandro Hartmann dafür bei einem Telefonat aus dem Gefängnis gemacht hat. „Ich habe immer noch Albträume“, hört man Erik sagen.

Lyle Menendez hatte Kugelreste im Kofferraum

Heute können die Brüder selbst kaum glauben, dass sie von der Polizei nicht sofort als Verdächtige behandelt wurden. Hätten die Ermittler an diesem Abend in Lyles Auto geschaut, hätten sie Kugelreste im Kofferraum gefunden, sagt der heute 55-Jährige. Doch keiner traut dem 21-jährigen Lyle und dem 19 Jahre alten Erik, zwei geschniegelten Millionärssöhnchen, eine solche Tat zu. Und dann legen die beiden auch noch Kinotickets als Alibi vor.

Die Brüder gehen nach dem Mord an ihren vermögenden Eltern unbehelligt auf Shoppingtour: Sie kaufen sich Rolex-Uhren, Lyle legt sich einen Porsche zu. Eine Million US-Dollar sollen die beiden in den ersten Monaten nach der Tat auf den Kopf gehauen haben. Doch Erik plagt offenbar das Gewissen: 1990 vertraut er sich einem Therapeuten an. Der weiht (gegen seinen Berufsethos) seine Geliebte ein – und die informiert die Polizei. Bei seiner Festnahme habe er „ein Gefühl der Erleichterung“ verspürt, sagt Lyle heute.

José Menendez soll ein sadistischer Tyrann gewesen sein

In ihrer ersten Stellungnahmen gaben die Anwältinnen der Menendez’ drei Jahre später im Gerichtssaal die Richtung der Verteidigung vor: Die Brüder hätten ihre Eltern aus Angst getötet. José Menendez, der aus Fidel Castros Kuba in die USA kommt, der sich als als Besitzer einer Videogesellschaft ganz nach oben gearbeitet hat, sei ein sadistischer Tyrann gewesen. Er habe brutal über seine Frau und seine Söhne geherrscht, ihr Leben bestimmt. Doch noch viel schlimmer: José Menendez habe seine Söhne jahrelang sexuell missbraucht. „Wir haben furchtbare Geheimnisse gehütet“, sagt Erik heute.

Lyle habe zunächst große Vorbehalte gehabt, auf diese Verteidigung zu setzen. Doch dann habe er nachgegeben, wie er sich heute erinnert. Die Brüder sagen vor Gericht aus, sie hätten ihre Eltern in Notwehr erschossen: Hätten sie sich jemandem anvertraut, hätte ihr Vater sie umgebracht. Die damalige Staatsanwältin Pamela Bozanich hält dieses Argument bis heute für vorgeschoben.

Die Menendez-Brüder beschäftigen eine ganze Nation

Notwehr aus Verzweiflung oder kaltblütiger Mord zweier gieriger „rich kids“? Diese Frage fasziniert die Nation, wird im Frühstücksfernsehen und bei Oprah Winfrey diskutiert, ist Futter für Late-Night-Shows und „Saturday Night Live“. 1994 endet der erste Prozess ohne Urteil, die Jury ist gespalten.

Zwei Jahre später wird das Bruderpaar in einem zweiten Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Mit einer neuen Jury, aber ohne Live-Übertragung aus dem Gerichtssaal, folgen die Geschworenen der Anklage: Die Söhne hätten es auf das 14-Millionen-Dollar-Vermögen ihrer Eltern abgesehen gehabt. 13 Stunden berät die Jury über das Strafmaß und entscheidet sich am 2. Juli 1996 gegen die Todesstrafe und für lebenslange Haft ohne Aussicht auf Begnadigung.

Kim Kardashian ist eine prominente Fürsprecherin der Brüder

Manche Experten sagen heute, seien die Menendez-Brüder die Menendez-Schwestern gewesen, man hätte ihnen geglaubt. In den 1990er Jahren habe man weniger Bewusstsein dafür gehabt, dass auch Männer Opfer von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch sein können. Inzwischen haben Lyle und Erik Menendez auch eine prominente Fürsprecherin: Kim Kardashian, die sich für eine Reform des US-Justizsystems stark macht, hat die Brüder im Gefängnis besucht. „Ich habe Zeit mit Lyle und Erik verbracht; sie sind keine Monster. Sie sind freundliche, intelligente und ehrliche Männer“, schrieb Kardashian in einem Meinungsbeitrag für NBC News. Unter dem Hashtag #FreeMenendezBrothers fordern Menschen in den sozialen Netzwerken, das Strafmaß für die Brüder abzumildern.

Mark Geragos, der Anwalt der Brüder, kämpft dafür, dass das Strafmaß neu verhandelt und neues Beweismaterial zugelassen wird: Zum einen ein Brief, den Erik vor der Tat an seinen Cousin geschrieben hat und in dem er den Missbrauch schildert. Zum anderen hat inzwischen auch Roy Rosselló, Mitglied der 1980er-Boyband Menudo (der auch der Latin-Star Ricky Martin angehörte), Vorwürfe gegen José Menendez erhoben. Rosselló wirft Menendez vor, ihn unter Drogen gesetzt und missbraucht zu haben. Vor Kurzem hat der zuständige Staatsanwalt in Los Angeles angekündigt, dass er sich den Fall von Lyle und Erik Menendez erneut vornehmen wird. Der Ausgang ist ungewiss.

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Erstellt:
7. Oktober 2024, 14:35 Uhr
Aktualisiert:
7. Oktober 2024, 15:32 Uhr

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