WWF-Report warnt eindringlich
„Wir zerstören, was uns am Leben hält“
Weltweit schwinden immer mehr Tierbestände. Eine WWF-Untersuchung zeigt nun, wie es um viele Populationen weltweit steht. Dabei laufen ökologische Kipppunkte Gefahr, überschritten zu werden.
Von Markus Brauer/dpa
Die Bestände von Wildtieren nehmen weltweit drastisch ab. Das geht aus dem heute erschienenen „Living Planet Report 2024“ der Umweltstiftung WWF und der Zoologischen Gesellschaft London mit Daten zu mehr als 5500 Wirbeltierarten weltweit hervor. Demnach schrumpften die insgesamt 35.000 untersuchten Populationen – darunter Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien und Reptilien – in den vergangenen 50 Jahren um durchschnittlich 73 Prozent.
The 2024 Living Planet Report is out, and the message is clear: Nature is in crisis. There has been a 73% decline in the average size of monitored wildlife populations, warning us of rising extinction risks and ecosystem collapse. Read the report: https://t.co/1B9LqjaQvB… pic.twitter.com/jUwBZGHZlT — WWF Science (@WWFscience) October 9, 2024
Die Menschheit sägt am Ast, auf dem sie sitzt
Den stärksten Rückgang verzeichnen nach WWF-Angaben die Süßwasserökosysteme mit 85 Prozent, gefolgt von Land- (69 Prozent) und Meeresökosystemen (56 Prozent). Geografisch am stärksten betroffen sind Lateinamerika und die Karibik (95 Prozent), gefolgt von Afrika (76 Prozent) und der Asien-Pazifik-Region (60 Prozent).
„Der Living Planet Index zeigt: Wir zerstören, was uns am Leben hält“, sagt WWF-Vorständin Kathrin Samson. „Unsere Gesundheit, unsere Lebensmittelversorgung, unser Zugang zu sauberem Wasser, die Stabilität der Wirtschaft und erträgliche Temperaturen sind abhängig von intakten Ökosystemen und gesunden Wildtierbeständen.“
Ursachen für das Artensterben menschengemacht
Laut WWF sind alle Ursachen für das Artensterben menschengemacht. Die Zerstörung der Lebensräume vieler Tiere und Pflanzen, die Umweltverschmutzung und die Klimakrise könnten für viele Arten das Aus bedeuten:
- Dramatisch sehe es beispielsweise für den Atlantischen Kabeljau/Dorsch im Nordatlantik und der westlichen Ostsee aus. Sein Bestand brach zwischen 2000 und 2023 um 77 Prozent ein.
- Die Populationen der Amazonas-Flussdelfine und die der kleineren Tucuxi-Delfine im brasilianischen Mamirauá-Schutzgebiet gingen von 1996 bis 2016 um 65 Prozent und um 75 Prozent zurück.
- Dass Artenschutzmaßnahmen wirken, zeige sich hingegen beim Wisent. Die Art war in freier Wildbahn ausgestorben und sei wieder auf etwa 6800 Tiere angewachsen.
- Auch die Berggorillas im Virunga-Bergmassiv im Grenzgebiet von Kongo, Ruanda und Uganda erholten sich, ihr Bestand sei auf rund 700 Tiere gestiegen.
Doppelkrise aus Biodiversitätsverlust und Klimakrise
„Die Doppelkrise aus Biodiversitätsverlust und Klimakrise bringt nicht nur einzelne Arten an ihre Grenzen, sondern gefährdet die Stabilität ganzer Ökosysteme“, betont Samson. Die Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes und die globale Massenbleiche von Korallenriffen seien nur zwei Beispiele dafür. „Die Kipppunkte, auf die wir zusteuern, markieren die Grenze des Unumkehrbaren“, mahnt Samson.
Die nächsten fünf Jahre seien entscheidend für die Zukunft des Lebens auf der Erde. „Noch können wir das Ruder herumreißen und den Verlust der biologischen Vielfalt aufhalten. Dafür muss aber die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft schneller gehen“, fordert Samson.
Dominoeffekt des Weltklimas
Unter Kipppunkten versteht man in der Klimaforschung, wenn durch kleine Veränderungen ein Domino-Effekt ausgelöst wird, dessen Folgen unter Umständen nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Werden mehrere Kipppunkte überschritten, besteht zudem das Risiko eines katastrophalen Verlusts der Fähigkeit, Pflanzen für Grundnahrungsmittel anzubauen.
Das Konzept der Kipppunkte und damit verbundene Unsicherheiten werden unter Wissenschaftlern weltweit intensiv und zum Teil konträr diskutiert.
Kaskade von Kipppunkten
„Fünf große Kippsysteme laufen bereits Gefahr, bei der derzeitigen globalen Erwärmung ihren jeweiligen Kipppunkt zu überschreiten“, warnt das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Dabei geht es um das grönländische und westantarktische Eisschild, die subpolare Wirbelzirkulation im Nordatlantik, Warmwasserkorallenriffe und einige Permafrost-Gebiete. „Wenn die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius ansteigt, könnten mit borealen Wäldern, Mangroven und Seegraswiesen drei weitere Systeme in den 2030er Jahren vom Kippen bedroht sein“, heißt es seitens des PIK.
Würden mehrere Kipppunkte überschritten, bestehe zudem das Risiko eines katastrophalen Verlusts der Fähigkeit, Pflanzen für Grundnahrungsmittel anzubauen, . „Ohne dringliches Handeln, um die klimatische und ökologische Katastrophe aufzuhalten, werden Gesellschaften überfordert sein, wenn die Natur aus den Fugen gerät“, heißt es beim PIK.