Detektivarbeit im Russland-Ukraine-Krieg

Wo steht der ukrainische Soldat genau am Kreuz?

Wie unsere Redaktion herausfindet, wo sich jemand befindet,der ein Bild von sich in den sozialen Medien postet.

Ein Beleg für den Vormarsch ukrainischer Kampfverbände auf russisches Gebiet?

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Ein Beleg für den Vormarsch ukrainischer Kampfverbände auf russisches Gebiet?

Von Franz Feyder

Rechts ein orthodoxes Kreuz auf einem Sockel aus roten Ziegeln. Links am Bildrand ein Schild mit kyrillischen Buchstaben. Im Zentrum des Fotos hält ein Soldat eine Fahne vor seiner Brust, die das Wappen der 80. ukrainischen Luftlandebrigade zeigt. Seinen rechten Fuß hat er auf die rot-blau-weiß gestreifte russische Fahne gesetzt, rund um seinen Helm ein blaues Klebeband.

Das über den Nachrichtenkanal Telegram am 13. August 2024 um 22.59 Uhr über das Konto defender_skadovsk, Verteidiger von Skadowsk, verbreitete Foto soll den Vormarsch der Ukraine in der russischen Region Kursk belegen. Für unsere Redaktion stellt sich die Frage: Wo ist das Foto aufgenommen worden? Gibt es weitere Belege dafür, dass die 80. Brigade in dieser Region eingesetzt wird? Ist das Foto vor dem Hintergrund des Gesamtgeschehens in der Region plausibel? Ist die durch das Foto ausgesandte Botschaft „die Ukraine ist in der russischen Region Kursk erfolgreich“ glaubhaft?

Detektivarbeit via Satellitenbilder

Um das zu überprüfen, greifen wir auf Methoden der „Open Source Intelligence“ zu – Informationen, die sich in offenen Quellen wie Fotos in sozialen Netzwerken, Medien, dem Internet finden lassen.

Detektivarbeit via Satellitenbilder

Schritt für Schritt. Das Foto des Fallschirmjägers irgendwo in Russland scheint eine Primärquelle zu sein, also von einem Augenzeugen aufgenommen worden zu sein. Bestätigt sich das, käme ihm eine hohe Glaubhaftigkeit zu. Das Telegram-Konto von Skadowsk wurde am 1. August 2022 aktiviert. Seitdem wurden 38 332 Fotos, Videos und Nachrichten veröffentlicht, vorwiegend von den Schlachtfeldern der Ukraine. Meistens im Zusammenhang mit 80. Luftlandebrigade. Die im März 2022 von russischen Soldaten besetzte, südukrainische Hafen- und Touristenstadt Skadowsk wurde im Sommer 2022 von diesem Verband zurückerobert und bis zum Winter 2023 verteidigt. Belegt ist das durch zahlreiche Fotos aus ukrainischen und russischen Quellen. Es finden sich auch Gruppenfotos, auf denen der Soldat zu sehen ist, der neben dem Kreuz posiert.

Die Buchstaben auf dem Ortsschild am linken Bildrand ergeben Goncharovka, wie das Programm Deepl übersetzt. Das Auskunftsportal wikidata weiß: Goncharovka ist im Jahr 2010 ein 2759-Seelen-Dorf, 7300 Meter Luftlinie jenseits der ukrainischen Grenze, gehört zur russischen Kleinstadt Sudscha und ist ein Vorort von ihr.

Google Earth und Yandex als Quellen

Auf dem Foto ist rechts neben dem Ortsschild ein mächtiger Baum zu sehen. Weiter rechts ein rot-weiß bemalter Hochspannungsmast. Links des Soldaten verläuft eine geteerte Straße, ein etwa doppelt mannshohes Kreuz ist rechts des Fallschirmjägers. Diese Kombination muss sich also irgendwo an einem der Ortsränder Goncharovkas finden lassen – auf der Website Google Earth, die kostenlos Satellitenaufnahmen zugänglich macht. Am südlichen Ortsrand von Goncharovka, bei Koordinaten 51°11’01.0“N 35°14’05.0“E. Auf dem Satellitenbild lässt sich der rot-weiß-rote Hochspannungsmast erkennen, links davon ein Baum. Darunter ein Feldweg und unter diesem ein schwarzer Punkt in der Grasfläche. Das findet sich so auch auf anderen Websites wie Yandex.

Ein Abgleich mit genaueren Satellitenaufnahmen kostenpflichtiger Anbieter zeigt: Der schwarze Punkt im Gras wirft einen 10,8 Meter langen Schatten, der Hochspannungsmast einen 70,04 Meter langen. Das spricht für ein an dieser Stelle aufgestelltes Denkmal oder eine Statue. Hier lassen sich also zweifelsfrei kombinieren: grosser Baum, rot-weiß-rot gestreifter Hochspannungsmast, geteerte Straße. Ein starkes Indiz spricht dafür, dass es sich bei dem 10,8-Meter-Schatten um das Kreuz handelt.

Seit Beginn der aktuellen russischen Offensive in dem seit 3765 Tagen währenden Kriegs vollzieht unsere Redaktion nach, welche ukrainischen und russischen Verbände wann und wo in der Ukraine eingesetzt sind. Am 6. Juli 2024 suchte auf Facebook eine Schwester ihren Bruder Ivantsov Viktorovich, eingesetzt in der 80. Brigade beim Dorf Krasnohorivka nahe der Stadt Prokovsk. Am 30. Juli veröffentlichte dieser Verband Fotos zerstörter russischer Panzer unweit dieses Dorfes. Bis zum 5. August findet sich nichts mehr zur 80. Brigade. Dann aber auf der Plattform X eine Nachricht eines Soldaten der Brigade, in der er einen russischen Artillerieangriff auf seine Stellung nahe der ukrainischen Kleinstadt Junakiwka beschreibt.

Geolokation in Baden-Württemberg

Am 11. August lässt sich ein Video der 80. Brigade finden, dass einen erbeuteten russischen Kampfpanzer zeigt – an derselben Stelle, an dem zwei Tage später der Soldat neben dem Kreuz posiert. Auf einer Satellitenkarte der US-Weltraumorganisation NASA lassen sich große Brände weltweit recherchieren. Diese Karte zeigt seit dem 7. August Brände im Raum Sudscha, augenscheinlich durch Kämpfe hervorgerufen.

Geolokation auch in Baden-Württemberg

Russische Veröffentlichungen dokumentieren im Raum südlich von Sudscha US-Stryker- und australische Busmaster-Transportpanzer, zudem Kampfpanzer vom Typ T-80-BV. Als eine der wenigen ist die 80. Brigade mit diesem Waffen-Mix ausgerüstet. Das Foto des Soldaten ist glaubhaft. Es lässt – mit weiteren Fotos und Videos – den Schluss zu, dass ukrainische Truppen die Region unter Kontrolle haben: Im Feuer russischer Soldaten würden solche Fotos fürs Familienalbum nicht gemacht werden.

Die beschriebene Methode der sogenannten Geolokation wendet unsere Redaktion auch für andere Themengebiete an: Bei Verkehrsunfällen und Straftaten in Baden-Württemberg, bei Recherchen zu Extremisten, Radikalen und Terroristen, dem Aufenthaltsort von Politikern.

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Erstellt:
14. August 2024, 16:51 Uhr

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