Worte geben Kraft und Zuversicht

Zum Welttag der Poesie am 21. März gibt Elisabeth Müller einen kleinen Einblick in ihr Poesiealbum. Die 77-jährige Aspacherin nimmt das Büchlein aus ihrer Schulzeit heute noch hin und wieder zur Hand und erfreut sich an den erbaulichen Sprüchen und Erinnerungen.

In ihr Poesiealbum durften nur die wirklichen Freundinnen schreiben. Beim Blättern denkt Elisabeth Müller gerne an die Wegbegleiterinnen zurück und erfreut sich an deren akkuraten Eintragungen. Fotos: privat

In ihr Poesiealbum durften nur die wirklichen Freundinnen schreiben. Beim Blättern denkt Elisabeth Müller gerne an die Wegbegleiterinnen zurück und erfreut sich an deren akkuraten Eintragungen. Fotos: privat

Von Matthias Nothstein

BACKNANG.Wenn es in den Nachrichten mal wieder nur um Mord und Totschlag und Krieg in aller Welt geht, dann zieht sich Elisabeth Müller gerne zurück und greift nach einem Buch mit schönen, aufbauenden Versen. Das gibt ihr Kraft und lässt sie zur Ruhe kommen. Zuweilen nimmt sie dann ihr Poesiealbum zur Hand, in das vor weit über 60 Jahren zumeist ihre Schulfreundinnen geschrieben haben, und erfreut sich an schönen Erinnerungen und erbaulichen Sprüchen. Am 21. März ist der Welttag der Poesie. Ein passender Anlass, einmal in Elisabeth Müllers Poesiealbum zu blättern.

Auf den ersten Blick sieht man dem Büchlein seine Beliebtheit an, der Einband hat den Jahren Tribut gezollt, löst sich an einigen Stellen schon auf. Die Einträge hingegen beeindrucken heute noch durch ihre Schönheit und akkurate Ausführung. Elisabeth Müller lacht und erklärt, „bei uns hat man ein Album erst bekommen, wenn man schönschreiben konnte, so etwa ab der vierten Klasse“. Auch erinnert sie daran, dass es, wenn man in ein Album schreiben durfte, „etwas ganz Besonderes war, das durften nur die, die man wirklich als Freundin angesehen hat, das war eine Ehre“. Die Kinder und Jugendlichen haben sehr lange an den Einträgen geschafft: „Der Text wurde natürlich erst einmal auf einem anderen Blatt vorgeschrieben. Dann wurden Linien gezogen und der Eintrag in der schönsten Schrift und mit Tinte oder bunten Stiften geschrieben. Oft wurden auch kunstvolle Bildchen gemalt oder – so war das zu meiner Jugendzeit – auch Fotos reingeklebt, manchmal auch ein Scherenschnitt.“ Sorgfalt hin, Sorgfalt her, nach höchstens einer Woche musste das Album aber wieder beim Besitzer zurück sein.

Die 77-Jährige schmunzelt, wenn sie daran zurückdenkt, wie lange jeder an solch einem Eintrag gearbeitet hat. Aber jeder Spruch war auch etwas Besonderes, er musste zu dem jeweiligen Gegenüber passen. Beim Blättern bleibt sie an manchen Einträgen hängen und liest dann vor, fast um ein Gegenbeispiel zu nennen: „Hab Sonne im Herzen, ob’s stürmt oder schneit... Das hat man geschrieben, wenn einem gar nichts mehr eingefallen ist.“

„Wir mussten viel auswendig lernen und hatten jede Menge Lesebücher.“

Doch der jungen Elisabeth sind immer gute Verse eingefallen, „wir mussten ja in der Schule viel auswendig lernen und hatten jede Menge Lesebücher, die Auswahl war riesig“. Die Verbindungen mit den Freundinnen, die im Album stehen, diese Verbindungen bestehen bis heute noch. „Man hat sich ja immer auf ewig Treue geschworen.“ Heute holt Elisabeth das Büchlein oft aus dem Schrank, „spätestens immer beim Abstauben“. Dann liest sie darin und freut sich. „Oft macht es mich auch traurig, weil viele, die reingeschrieben haben, heute schon nicht mehr leben.“ Und sie bedauert, „dass ich nicht mehr habe reinschreiben lassen“.

Während die meisten Kameradinnen allen Lehrern ihr Album weitergereicht haben, hat Müller dies nicht gemacht, „ich war immer ein wenig rebellisch“, räumt die Seniorin ein. So stammt der einzige Eintrag einer Erwachsenen von ihrer Handarbeitslehrerin: „Die durfte reinschreiben, weil ich auch immer diesen Beruf erlernen wollte.“ Und so steht von ihr geschrieben: „Es war nur ein sonniges Lächeln, es war nur ein freundliches Wort; doch scheuchte es lastende Sorgen und schwere Gedanken fort.“

Die Liebe zu den schönen Worten ist Müller bis heute erhalten geblieben. „Ich freue mich immer, wenn ich irgendwo einen schönen Spruch sehe und hebe ihn auf oder schreibe ihn ab. Für die Zettel habe ich ein extra Kästchen.“ In diesem blättert sie dann, wenn sie etwa jemand zum Geburtstag schreibt, „ich überlege mir ganz genau, was ich wem schreibe“. Bei Briefen an die Kinder und Enkel kann es zum Beispiel schon einmal vorkommen, dass sie kurz zweifelt. Sie fragt sich dann, ob diese wohl denken, das eine oder andere Wort sei etwas zu geschwollen oder zu ernst. „Aber ich überlege lang, was ich schreibe. Das sind ja auch Zeilen, die fürs Leben gedacht sind. Vielleicht ziehen sie die Briefe einst wieder einmal heraus und blättern darin. Und wenn sie dann denken, ,recht hat sie‘ oder ,schön war’s‘, dann hat ja alles gepasst.“

Ein besonderer Schatz ist für Elisabeth Müller das Poesiealbum ihrer Mutter Theresia Vogt, die 1910 in Mindelheim geboren wurde. Damals hatten die jungen Frauen das Album bekommen, „wenn man in Stellung ging, im Fall meiner Mutter war das kurz nach 1930“. Die Einträge stammen fast durchweg von Arbeitskollegen, dazu noch von ihrem Vater und Onkel sowie von der Tauf- und Firmpatin. Meist ging es darum, wie sich eine christliche Frau im Leben verhalten soll. Etwa: „Drei Perlen kleiden ein Mädchen schön, und bringen ihr Segen und Freude. In diesem Schmuck lass stets dich sehn, sie kleiden schöner als Seide. Die drei Perlen, die reinsten im irdischen Land, werden Unschuld, Frömmigkeit und Demut genannt.“

Lea Rupp ist mehr als zwei Generationen jünger. Auch sie besitzt ein Poesiealbum, „das hatte in meiner Klasse jeder“. Zwar hat bei ihr die Poesie nicht die gleiche anhaltende Wirkung erzielt, aber auch sie versucht, kreativ zu sein, wenn es darum geht, Geburtstags- oder Hochzeitskarten zu schreiben. Vor zehn Jahren kam das Album in den Karton, in dem die Kindheitserinnerungen auf dem Dachboden lagern. Aber es ist noch da zwischen Kinder- und Hamsterbüchern. Heute begeistert sich die 25-Jährige eher für Poetry-Slam: „Ich besuche manchmal Veranstaltungen, etwa im Treff44, und habe auf Instagram einen Kanal abonniert.“

Lea Rupp hat ihr Poesiealbum schon lange nicht mehr durchgeblättert. Dafür kann sie sich heute für Poetry-Slam begeistern.

Lea Rupp hat ihr Poesiealbum schon lange nicht mehr durchgeblättert. Dafür kann sie sich heute für Poetry-Slam begeistern.

Der Welttag der Poesie

Der Welttag der Poesie findet seit dem Jahr 2000 am 21. März statt und wurde von der Unesco ins Leben gerufen.

Der Begriff Poesie stammt aus dem Griechischen und bezeichnet die Kunstart, die mit Fantasie die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache einsetzt, um dem Leser Lebens- und Welterfahrungen näherzubringen.

Das Poesiealbum hatte seine Blütezeit im 19. Jahrhundert, als Mitglieder von literarischen Zirkeln sich gegenseitig mit Versen in speziellen Heften „verewigten“. Die Sitte betrieben hauptsächlich Erwachsene.

Einer der am häufigsten eingetragenen Verse stammt aus der Feder vom Johann Wolfgang von Goethe: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“

Zum Artikel

Erstellt:
20. März 2021, 16:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen