„Yakin hat eine gewisse Zockermentalität“
Der Schwabe Peter Zeidler kennt den Schweizer Fußball aus der Zeit beim FC St. Gallen. Wo liegt für ihn dessen Erfolgsgeheimnis der Eidgenossen und welche Chancen räumt er ihnen gegen England ein?
Von Eidos Import
Stuttgart - Nach ihrem Achtelfinal-Erfolg gegen Titelverteidiger Italien ist die Schweizer Fußball-Nationalmannschaft noch drei Siege vomSensationstitel bei der Europameisterschaft entfernt. Peter Zeidler, der neue Chefcoach von Bundesligist VfL Bochum, schätzt vor dem Viertelfinal-Duell mit England (Samstag, 18 Uhr) in Düsseldorf die Lage ein und erzählt über seine gemeinsamen Wurzeln mit Jürgen Klopp und Ralf Rangnick.
Herr Zeidler, überrascht Sie der Viertelfinaleinzug der Schweiz?
Nein, und das nicht nur, weil Italien im Achtelfinale nicht gut war. Die Schweizer sind durch die Erfolge richtig zusammengewachsen. Dass die Jungs kicken können, ist ja keine neue Erkenntnis. Neben der Spielfreude und dem Kombinationsfluss sind nun auch Mut, Aggressivität und Zielstrebigkeit hinzugekommen. Das ist eine stabile Einheit, in der die Mentalität stimmt.
Sie nennen Eigenschaften, die große Teams auszeichnen.
Ja, hinzu kommen ein guter Torwart Yann Sommer, mit Manuel Akanji ein Top-Abwehrchef, der Stratege Granit Xhaka führt gekonnt Regie im Mittelfeld – und dann sind da noch diese pfeilschnellen Stürmer. Unter den zehn Spielern dieser EM mit dem höchsten Speed stehen drei Schweizer: Ruben Vargas, Breel Embolo und Dan Ndoye. Es greifen einfach alle Zahnräder so präzise ineinander wie noch nie.
Dabei war das Schweizer Länderspieljahr 2023 ja alles andere als besonders.
Das stimmt, und von den einflussreichen Medien in der Schweiz kam viel Gegenwind. Vor allem vom Boulevardblatt „Blick“ gab es ordentlich Feuer. Xhaka übte öffentliche Kritik an Trainer Murat Yakin. Das hätte richtig gefährlich werden können.
Aber?
Das Ganze ist inzwischen vom Tisch, durch die Rückschläge ist das Team gereift, und jeder stellt sein Ego zurück. Selbst ein Xherdan Shaqiri zeigt auch als Reservist eine top Körpersprache und sieht sich als Teil des Ganzen. Das erstaunt mich schon. Keiner ist beleidigt, wenn er nur zwei Minuten spielt.
Ein Verdienst des Trainers?
Yakin hat einen guten Fußballsachverstand, eine gewisse Zockermentalität, und er hat es in der Tat geschafft, alle unter einen Hut zu bringen. Vor dem Achtelfinale gegen Italien machte er eine halbe Stunde vor Anpfiff La Ola vor der Schweizer Kurve. Das zeigt die Verbundenheit. Trainerteam, Mannschaft, Fans sind eine verschworene Gemeinschaft. Es herrscht ein einzigartiger Spirit auf allen Ebenen. Jeder hilft dem anderen. Die Schweiz ist nicht so erfolgsverwöhnt wie Deutschland, jetzt ist das ganze Land unglaublich Stolz auf ihre Nati.
Wie sehen Sie den VfB-Profi Leonidas Stergiou?
Gut, er ist immer ein Teamplayer, immer fokussiert, immer schnell auf den Beinen, ihm läuft keiner davon. Die vergangenen Monate beim VfB haben ihn wachsen lassen. Ohne dieses Selbstvertrauen würde er bei dieser EM nicht mitspielen.
Wird die Schweiz nach dem Viertelfinale gegen die Engländer noch im Rennen sein?
Die Engländer waren ja fast schon draußen. Sie spielten nicht so einfallsreich, langsam, aber die beiden Tore gegen die Slowakei musste man dann erst noch machen. Das wird ein Fifty-fifty-Spiel. Nur weil die Engländer bisher nicht überzeugt haben, ist die Schweiz jetzt nicht plötzlich Favorit. Alles ist möglich.
Kennen Sie den deutschen Bundestrainer Julian Nagelsmann noch aus Ihrer Zeit in Hoffenheim?
Wir haben uns knapp verpasst. Aber ich weiß noch ganz genau, wie sehr Helmut Groß (Anm. d. Red.: Urvater der Spielidee und Mentor von Ralf Rangnick) sein Trainertalent schätzte und ihn 2013 als Co-Trainer von Adi Hütter zu RB Salzburg holen wollte. Doch TSG-Chef Dietmar Hopp stellte Julian dann das Chefcoachamt bei den Profis in Aussicht – und er blieb.
Wie sehr hat Sie Ralf Rangnick, der aktuelle österreichische Nationalcoach, geprägt?
Ralf studierte wie ich an der Uni in Stuttgart. Damals haben wir die Ideen von anderen regelrecht aufgesaugt. Das Pressing des AC Mailand unter Arrigo Sacchi zum Beispiel. Jürgen Klopp schreibt in seinem Buch: Da waren ein paar verrückte Württemberger, die hatten gute Ideen und ein paar Dinge anders gesehen. Klopp, Rangnick und ich, wir haben die gleichen Wurzeln.
Prägen ihre Ideen die Europameisterschaft?
Im modernen Fußball musst du alle Facetten beherrschen. Du brauchst viele Ballbesitzphasen und starke Umschaltmomente. Und ohne aggressives Attackieren geht es gar nicht. Das zeigen gerade auch Teams wie die Schweiz und Ralfs Österreicher. Es ist beeindruckend, wie diese Länder zur Spitze Europas aufgeschlossen haben. Dies ist auch eine Auszeichnung für die Ligen dort und freut mich sehr.