Schläge und Beleidigungen: Mehr Angriffe gegen Politiker

dpa/lsw Stuttgart. Sie werden bedroht, bedrängt und beleidigt. Politikern und Mitarbeitern öffentlicher Ämter schlägt eine Aggression entgegen, die zunehmend stärker wird. Das Innenministerium vermutet, auch die Pandemie könnte etwas damit zu tun haben.

Ein Streifenwagen der Polizei steht auf einer Straße. Foto: Guido Kirchner/dpa/Symbolbild

Ein Streifenwagen der Polizei steht auf einer Straße. Foto: Guido Kirchner/dpa/Symbolbild

Morddrohungen, Rempeleien, Schmierereien und Beleidigungen auf offener Straße: Bürgermeister, Abgeordnete und Stadträte werden nach wie vor massiv angegriffen. Die Zahl der Taten könnten in diesem Jahr sogar einen Höchststand erreichen. Grund für die steigende Aggressivität, für Hassmails, anonyme Anrufe und hin und wieder auch für zerstochene Reifen, könne nicht zuletzt das aufgeheizte Klima rund um die Corona-Verbote sein, vermutet das baden-württembergische Innenministerium. Außerdem seien Amtsinhaber bei dem Thema mittlerweile sensibilisiert, heißt es in einer Antwort der Landesbehörde auf eine Anfrage der SPD-Fraktion im Landtag.

Nach den Zahlen des Ministeriums wurden in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres bereits 219 Ermittlungs- und Strafverfahren eröffnet, weil Amts- und Mandatsträger zu Opfern verbaler oder körperlicher Attacken wurden. „Zum ersten Halbjahr 2021 sind bereits knapp 58 Prozent der Fallzahlen des Gesamtvorjahres 2020 registriert“, gibt das Ministerium zu bedenken. Denn im gesamten vergangenen Jahr lag die Zahl der Verfahren bei 378, im Jahr 2019 bei 175, wie aus der Antwort auf die große SPD-Anfrage hervorgeht. Bei fast jeder zweiten Tat in diesem Jahr (100) kennt die Polizei den Verdächtigen.

Wer ein öffentliches Amt bekleidet oder ein Mandat ausübt, wird laut Statistik vor allem beleidigt, er oder sie könnte aber auch Sachbeschädigungen und politisch motivierten Attacken ausgesetzt sein. Die meisten dieser Taten konnten auch in diesem Jahr bislang politisch nicht eingeordnet werden. Die Zahl der Angriffe von rechts liegt laut Innenministerium allerdings etwa viermal so hoch wie linkspolitisch motivierte Taten.

Für den SPD-Rechtsexperten Boris Weirauch ist der Anstieg „ein Alarmsignal für Staat und Gesellschaft“. Es gebe Handlungsbedarf, weil die Tendenz für das Jahr 2021 einen weiteren Anstieg erwarten lasse. „Menschen, die sich politisch engagieren, sind kein Freiwild, sondern brauchen mehr Schutz und Unterstützung“, sagte Weirauch der dpa. Die Ehrenamtlichen in kommunalen Gremien und die Menschen in den Gemeinderäten und Kreistagen zögen sich sonst aus der Politik zurück.

Etwas anders sieht es bei gemeldeten Hassmails oder -kommentaren gegen Amts- und Mandatsträger aus: Nach einer überaus deutlichen Zunahme zwischen 2019 und 2020 ist deren Zahl im laufenden Jahr wieder stark gesunken. Wurden 2019 noch 18 sogenannte Postings registriert, waren es im Jahr darauf bereits 84, die weitaus meisten davon anonym. In diesem Jahr finden sich 19 Taten in der Statistik der ersten sechs Monate. „Insoweit zeichnet sich bislang eine rückläufige Tendenz ab“, heißt es dazu in der Antwort des Innenministeriums an die SPD.

Beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg gibt es für alle Amts- und Mandatsträgerinnen und -träger eine zentrale Ansprechstelle, die Beratung und Unterstützung bietet. In den vergangenen zwei Jahren wurden dort laut Innenministerium insgesamt 43 Beratungsgespräche geführt, davon 16 im Jahr 2019, 20 im Jahr darauf und bislang 7 im laufenden Jahr.

Gewalt gegen Bürgermeisterinnen, Bürgermeister und andere Kommunalpolitiker, das ist ein bundesweites Phänomen: Etwa 72 Prozent der Mandatsträger berichteten in einer April-Umfrage des Magazins „Kommunal“ im Auftrag des ARD-Politmagazins „report München“, im Rahmen ihrer Tätigkeit selbst schon einmal beleidigt, beschimpft, bedroht oder sogar tätlich angegriffen worden zu sein. 39 Prozent der Befragten sagten, sie hätten Hass im Internet erfahren. Körperlich angegriffen, bespuckt oder sogar geschlagen wurden laut Umfrage 11 Prozent der Stadt- und Gemeindeoberhäupter.

Dazu zählte im Mai 2018 auch der damals frisch gewählte Freiburger Oberbürgermeister Martin Horn, der auf seiner Wahlparty mit einem Faustschlag ins Gesicht und Tritten attackiert und schwer verletzt wurde. Für Schlagzeilen sorgte auch der Angriff auf den damaligen Hockenheimer Oberbürgermeister Dieter Gummer. Er war im Juli 2019 in Böhl-Iggelheim (Rheinland-Pfalz) von einem Unbekannten niedergeschlagen und schwer verletzt worden. Zudem erlitten laut Umfrage 79 Prozent der anderen Mitarbeiter von Stadt- oder Kreisverwaltungen Übergriffe und Beleidigungen.

Der baden-württembergische Gemeindetag sieht vor allem die Gesellschaft in der Verantwortung: „Aggressivität und Gewaltübergriffe sind in immer größerer Zahl spürbar geworden“, sagte Gemeindetags-Präsident Steffen Jäger der Deutschen Presse-Agentur. „In der Situation muss aus der schweigenden Mehrheit eine laute Mehrheit werden“, forderte er. „Das kann man nicht allein den Vollzugsbehörden überlassen. Da muss man deutlich sagen „So geht das nicht!““

Nach Einschätzung Jägers werden Entscheidungen, die sich im Zweifel nicht zum eigenen Vorteil und sogar zum persönlichen Nachteil auswirken können, nicht so akzeptiert, wie das früher noch der Fall war. „Damals war noch stärker im Bewusstsein verankert, dass das Allgemeinwohl bisweilen auch mal das Zurücktreten des Einzelnen erfordert“, sagte der Gemeindetags-Präsident. Es müsse wieder einen Grundrespekt gegenüber dem Verantwortungsträger geben, forderte er. Das gelte nicht nur für Politiker, sondern auch für Lehrer, Polizisten oder Feuerwehrleute.

© dpa-infocom, dpa:211102-99-826829/6

Der Freiburger Oberbürgermeister Martin Horn hält sich nach einer Attacke einen Eisbeutel an das Gesicht. Foto: Patrick Seeger/dpa/Archiv

Der Freiburger Oberbürgermeister Martin Horn hält sich nach einer Attacke einen Eisbeutel an das Gesicht. Foto: Patrick Seeger/dpa/Archiv

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Erstellt:
2. November 2021, 05:32 Uhr

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