Gerüche der Kindheit
Zurück in die Kindertage
Gerüche, die man nie mehr vergisst, Geräusche, die einen in die Vergangenheit katapultieren – unsere Redakteure erinnern sich an Sinneseindrücke ihrer Kindertage.
Von Eva-Maria Manz und Lisa Welzhofer und Michael Setzer und Adrienne Braun und Hilke Lorenz und Alexandra Kratz
Früher machten Autos seltsame Geräusche, bevor sie ansprangen, der Geruch industriell gefertigter Erbensuppe lag in der Luft, Bierschinkenbrote wurden durch die Gegend gefahren und rochen am Ende speziell, und nur bei Oma und Opa durfte man „Knight Rider“ mit David Hasselhoff gucken. Es war nicht alles besser, aber vieles anders.
Der Duft von Tütensuppen
Zu einem Schönheitswettbewerb hätte man den Heilbronner Stadtteil Sontheim Ende der 70er nicht angemeldet. Doch der Garten meiner Oma war top. Riesengroß, obwohl die Hauptstraße nur einen Steinwurf entfernt war. Etwa zwei Steinwürfe weiter stand die Fabrik von Knorr, Hersteller von unter anderem der leckersten Erbsensuppe der Welt.
An manchen Tagen konnte sich der Garten anstrengen, wie er wollte, der Geruch der Tütensuppen aus Fabrik übertünchte alles. Oma machte dann immer das Fenster zu. Schade. Ich fand’s super, weil es im Garten nicht nur nach Schnittlauch, Blumen und so weiter, sondern auch nach der tollen Erbsensuppe gerochen hat. Irgendwann: über Stunden anhaltendes Sirenengeheul, Aufregung in der Nachbarschaft. Die Knorrfabrik stand in Flammen. Nun roch alles nach verbrannter Erbsensuppe und Garten. „Oma, Hunger!“
Michael Setzer
Riesen auf der Rückbank
Die moderne Technik erleichtert das Leben enorm – vor allem im Auto. Während man früher permanent Leib und Leben riskierte, piepst und trötet es heute schon warnend vorab. Kameras machen auch das Einparken kinderleicht – ein Blick aufs Display genügt. Schade, denn der technische Komfort macht den persönlichen Einsatz der Mitfahrenden gänzlich überflüssig. Wenn wir als Kinder dagegen mit der Tante ins Freibad fuhren, war voller Einsatz nötig. Die ganze Riege auf der Rückbank war gefragt, wenn es ans Rückwärtseinparken ging. Ein Akt, der nicht nur volle Konzentration erforderte, sondern vor allem freie Sicht durchs Heckfenster. Deshalb ertönte der gellende Tantenschrei „Rüben“ und zogen wir reflexartig die Köpfe ein. Ein unvergesslicher Moment, in dem wir Winzlinge uns endlich mal riesig wie Erwachsene fühlen konnten.
Adrienne Braun
Der Klang des Neustarts
Man weiß nicht, weshalb das Wort „öddeln“ erfunden wurde. Meine Theorie: Das hat etwas mit dem Simca meiner Mutter zu tun. Das Auto war braun, todschick und neu – obwohl es streng genommen ein Gebrauchtwagen war, als wir den am Hof des Händlers in Empfang nahmen. Ich glaube, es war Ende der 70er-Jahre und „unser“ erstes eigenes Auto. Kalt war es auch. Reinsitzen, freuen, Schlüssel ins Zündschloss, drehen und dann: öddel, öddel, öddel. Noch mal öddel, öddel, öddel. Mit jedem Öddeln stieg die Dynamik. Wie so eine Geschichte, die an Fahrt aufnimmt. Selbst die Tonhöhe stieg an. Nur anspringen wollte der Simca nicht. Dann sagt die Mutter: „Ah, da isser!“ Der „Choke“, eine Art „Geil“-Knopf für Autos. Man zieht daran und dann wird das Öddeln durch Geröchel angereichert. Das Auto springt an, schnurrt wie ein Kätzchen. Ähnliche Geräuschkombinationen habe ich später nur noch von Brian Johnson gehört, dem Sänger von AC/DC.
Michael Setzer
Angebratenes Paprikapulver
Die Großeltern waren Donauschwaben, aufgewachsen auf Bauernhöfen in Jugoslawien vor dem Zweiten Weltkrieg, mit Pferdekutschen, Strohbetten und Feldarbeit. Zeit ihres Lebens kochte meine Großmutter fantastische österreichisch-ungarische Gerichte. Ich wusste daher lange nicht, dass eine Einbrennsuppe normalerweise nicht feuerrot ist und man nicht jedes Gericht mit dem Anbraten von Zwiebeln und Paprikapulver beginnen muss. Zur belustigten Verwunderung meiner Großmutter war mein Lieblingsessen Hühnerpaprikasch. Für die Großmutter war das ein banales bäuerliches Alltagsgericht, das man damals im Topf neben dem Feld erhitzte.
Kurios war dann ein Erlebnis, als ich am Ende meiner Studienzeit eine Weile in Los Angeles gearbeitet habe. Dort fand ich mich eines Abends in einem ungarischen Restaurant ein und roch ganz plötzlich den vertrauten würzigen Omaduft. Dann saß ich mitten im Valley und aß Paprikasch mit Knopfspätzle. Traumhaft!
Eva-Maria Manz
Teppiche mit dem Hauch von Urlaub
Meine Kindheitssommer verbrachte ich mit der Familie in Florida – es waren die Neunziger, und man reiste sorglos umher. Sobald wir in Orlando oder Sarasota aus dem Flieger stiegen und in der Passkontrolle warteten, starrte ich müde auf meine Füße, unter denen sich wilde Muster wie auf den Seiten der beliebten Buchreihe „Das Magische Auge“ ausbreiteten. Da ging es los: Der Geruch der psychedelischen Flughafenteppiche lockte mich aus meinem Langstreckenflugdämmerschlaf, so süßlich-fremd wie nichts zu Hause. Ich wurde wach, das Urlaubsgefühl war in mir angeknipst wie ein inneres Licht. Ich sah mich sofort bei 80 Prozent Luftfeuchtigkeit im Meer baden, Chicken Wings von Hooters essen oder ein Mint-Chocolate-Chip-Eis in der Sarasota Square Mall. Während meine Freunde heute mit ihren Kindern nostalgisch die eigenen Kindheitsurlaubsorte in Bayern und Rimini wieder ansteuern, ist das Urlaubsrevival für mich nicht der nächste Weg. Wie in einem Horrorfilm sieht man sich in meinem früheren Sehnsuchtsland bald von einem orangen Clown regiert.
Eva-Maria Manz
Johannas Schreie auf dem Scheiterhaufen
Es war ein Privileg, im historischen Ortskern von Erfurt aufzuwachsen. Zu meinen Nachbarhäusern zählten Dom und Severikirche, der Blick aus meinem Fenster ging direkt auf den Domplatz. Dort fand viermal im Jahr der Rummel mit bunten und vor allem lauten Fahrgeschäften statt. „Wer hat noch nicht, wer will noch mal? Auf zur nächsten Ruuundeee!“ Solche Rufe hörte ich acht Wochen im Jahr vom frühen Nachmittag bis in die späten Abendstunden. Das war aber noch nichts im Vergleich zu den Domfestspielen. Mitte der 90er wurde die imposante Treppe vor den Kirchen als Freilichtbühne entdeckt. Von da an gab es im Sommer großes Theater. Das Stück „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Abend für Abend musste ich mit anhören, wie die Märtyrerin laut schreiend verbrannte. Und das nicht nur bei den stets ausverkauften Vorstellungen, denn davor waren viele Wochen mit noch mehr Proben zu überstehen.
Alexandra Kratz
Das duftende Mirakel des Puppenföhns
Wenn es um Kindheitserinnerungen geht, kommt man an Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kaum vorbei. Die Szene, als er eine Madeleine in den Tee tauchte, ist legendär. Dabei hat das Gebäck sicher nicht so wohlig gerochen wie meine Kindheit. Es gibt keinen schöneren Duft als diesen wohlig-weichen Puddinghauch, den ausgerechnet mein Puppenföhn verströmte.
An sich wäre der batteriebetriebene Miniföhn dazu da gewesen, Puppenhaare zu trocknen. Ich dagegen habe ihn wirbeln lassen, um das wundersame Mirakel wieder und wieder zu erleben, dass ausgerechnet ein Puppenföhn so lecker riechen kann.
Adrienne Braun
Vereint in Hühnersuppe
Medikamente hielt die Großmutter (Jahrgang 1926) für überbewertet, Krankheiten für eine Einbildung wohlstandsverwahrloster Nachkriegspflanzen („Da dengsch einfach net dran!“). Dennoch eilte sie, kam die Enkelin mit Rotznäsle nach Hause, an den Herd, um Hühnernudelsuppe zuzubereiten. Und so köchelte in diesem großen Topf zwischen Suppengrün und Hühnerknorpeln auch die Essenz ihrer Zuneigung und das Versprechen, sich Zeit ihres Lebens um das Mädle kümmern zu wollen. Kein Wunder, dass der Geruch von Hühnernudelsuppe bis heute dieses Geborgenheitsgefühl auslöst, das die Rotznase, ebenso wie alle Unbill der Welt, ein bisschen weniger schlimm macht. Das alt gewordene Mädle kocht sie nun regelmäßig für die eigenen Kinder. Und für die Großmutter, die trotz Medikamentenverachtung heute 98 Jahre alt ist, übrigens auch.
Lisa Welzhofer
Gefahrene Bierschinkenbrote
Das Rezept ist ganz einfach. Man nehme eine Scheiben Brot in Laibform, bestreiche sie mit Butter, belege sie mit Bierschinkenscheiben und lege noch eine gebutterte Schnitte obendrauf. Zugeben, das ist nicht sehr originell. Reiseproviant eben, der dann in zwei Hälften geschnitten und in Butterbrotpapier verpackt wurde und in den Korb mit den anderen Broten kam. Los ging die Fahrt im VW-Käfer auf der A7 nach Niedersachsen zur Restfamilie. Schon bei der ersten Rast irgendwo bei Würzburg schmeckten diese Brote anders als daheim am Abendbrottisch. Wir nannten sie „gefahrene Bierschinkenbrote“. Der Begriff wurde zum Codewort für Aufbruch und Urlaub. Ich habe immer dafür plädiert, ein paar mehr Brote als eigentlich nötig zu schmieren. Denn am Abend hatten sie einen noch viel besseren Geschmack. Ich befürchte, der Effekt ist nicht reproduzierbar.
Die Melodie von „Knight Rider“ bei Oma und Opa
Diese Synthesizer-Titelmelodie beamte das vorpubertäre Mädchen von einer Kindheit mit fünf Programmen, mit „Sesamstraße“ und „Spaß am Dienstag“, in die 80er-Jahre-Trash-Welt des Privatfernsehens. So wie Scotty die Besatzung von Raumschiff Enterprise in außerirdische Welten. Natürlich hatte die 68er-Mutter Serien wie „Knight Rider“, „Trio mit vier Fäusten“, „Hart aber herzlich“ und „Drei Engel für Charlie“ strikt verboten, weil Ami-Scheiß, antifeministisch, autoverherrlichend, kapitalistisch. Aber im Fernsehzimmer von Oma und Opa herrschten eben eigene Gesetze. So konnte Knight Rider David Hasselhoff, dieses Einsame-Wolf-Klischee in zu engen Hemden und mit Wuschelkopf, dessen tiefgründigste Beziehung die zu einem sprechenden Auto war, zum ersten Schwarm werden. Spätfolgen nicht ausgeschlossen.
Lisa Welzhofer
An welche Sinneseindrücke aus Ihrer Kindheit erinnern Sie sich noch?