Archäologischer Fund des Jahres
Zuwachs für den Elfenbein-Zoo auf der Schwäbischen Alb
Die Wiege der Kultur liegt auf der Schwäbischen Alb. Im Hohle Fels, einer eiszeitlichen Höhle bei Schelklingen, haben Archäologen Entdeckungen von Weltrang gemacht – wie die weltberühmte Venus. Jetzt wurde eine weitere Tierfigurine aus Mammutelfenbein präsentiert.
Von Markus Brauer
Ist das ein Otter? Für Nicolas Conard, der immer lange prüft, bevor er eine endgültige, wissenschaftlich korrekte Antwort gibt, ist es eindeutig. „Für mich steht fest: Das ist ein Otter.“
Vorsichtig holt der 63-Jährige Archäologe im Urgeschichtlichen Museum (Urmu) im baden-württembergischen Blaubeuren das kostbare, 40 000 bis 38 000 Jahre alte Artefakt aus Mammutelfenbein mit weißen Baumwollhandschuhen aus einer kleinen Holzschatulle und hält es in den Händen.
Tierpark der Elfenbeintiere von der Alb wird immer größer
An diesem Donnerstag (25. Juli) präsentiert Conard, der die Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie an der Universität Tübingen leitet, den „Fund des Jahres“ – zum zehnten Mal, wie er betont. „Das ist keines der Tiere, die wir sonst gefunden haben – Mammut, Höhlenlöwe, Wildpferd, Wasservogel oder Höhlenbär“, so der Forscher. „Otter ist für uns die wahrscheinlichste Interpretation.“
Ein Fischotter als Vertreter der Wassertiere sei bisher weltweit noch nie gefunden worden. „Der Zoo der Elfenbeintiere von der Schwäbischen Alb wird immer größer und vielfältiger.“
20. Juli 2023: Ein Tag für die archäologischen Geschichtsbücher
Jeden Sommer graben Mitarbeiter des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Universität Tübingen sowie Forscher und Studenten aus der ganzen Welt im Hohle Fels bei Schelklingen, wo das Artefakt auch gefunden wurde, und in anderen Naturhöhlen im Achtal und Lonetal. So auch am 20. Juli 2023.
Frederik Mygdam von der dänischen Universität Arhus schabt mit einem feinen Stuckateureisen die lehmige Erde behutsam Millimeter für Millimeter beiseite. Plötzlich stutzt er. Was er entdeckt hat, erweitert das Wissen um die altsteinzeitliche Kultur des Aurignacien wesentlich.
Unvollständig und doch absolut perfekt
Das kleine, sich vom dunklen Lehmboden abhebende braun-ockerfarbene Fragment stellt sich nach eingehender Reinigung und Prüfung als Tierfigurine heraus: 5,9 Zentimeter lang, 1,5 Zentimeter hoch, einen halben Zentimeter breit. Ein Kunstwerk von gedrungener Form mit kurzem, spitz zulaufenden Schwanz. Die Beine des Tieres sind sehr kurz, der Hals dagegen sehr lang. Der Kopf ist abgebrochen und fehlt.
„In den vergangenen Jahren ist es uns immer wieder gelungen, nach aufmerksamer Suche Bruchstücke von Funden zu ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild zusammenfügen“, berichtet Conard. Nach langem Abwägen und vielen Diskussionen sind sich die Forscher schließlich einig: Es handelt sich um einen Otter.
„Wir wissen heute nicht, was die Menschen damals an Ottern fasziniert haben könnte“, fährt der Archäologe fort. „Aber mit Sicherheit haben sie beobachtet, wie wendig er sich im Wasser bewegt, wie fürsorglich er seinen Nachwuchs aufzieht und welch ein raffinierter Fischjäger er ist“, ergänzt die Direktorin des Urmu, Stefanie Kölbl.
Weltkulturerbe auf der Schwäbischen Alb
Vor rund 40 000 Jahren hat der Homo sapiens, der anatomisch moderne Mensch, erstmals in der Evolutionsgeschichte figürliche Kunstwerke und Musikinstrumente von großer Schönheit und filigraner Erhabenheit geschaffen.
Zu den wichtigsten Fundstätten weltweit gehören sechs Eiszeit-Höhlen am Rande der Schwäbischen Alb, die seit Sommer 2017 Weltkulturerbe sind:
- Geissenklösterle unweit von Blaubeuren (Alb-Donau-Kreis)
- Sirgensteinhöhle bei Blaubeuren
- Hohle Fels bei Schelkingen (Alb-Donau-Kreis)
- Bocksteinhöhle bei Rammingen (Alb-Donau-Kreis)
- Hohlenstein bei Asselfingen (Alb-Donau-Kreis)
- Vogelherdhöhle bei Niederstotzingen (Kreis Heidenheim)
34 Fragmente sind eindeutig eiszeitliche Tiere
Laut Conard wurden in diesen eiszeitlichen Höhlen rund 120 Fragmente aus Mammutelfenbein gefunden. Die meisten von ihnen konnten bisher nicht gedeutet werden. Doch mit dem diesjährigen „Fund des Jahres“ sind es 34 Artefakte, die eindeutig als Tiere definieren werden können. Die Bandbreite – Löwen, Mammuts, Fische, Vögel, Wisents, Pferde – sei sehr groß. „Diese Vielfalt gibt uns Einblicke in die Lebensweise der Menschen von damals.“
Das die Oberfläche der Tierfigurine teilweise verwittert ist und Teile abgeplatzt sind, wundert den Archäologen und seine Doktorandin Ria Litzenberg nicht. Solche Art von Beschädigung kämen bei Mammutelfenbein häufig vor.
„Auf der Schwäbischen Alb ist die Kultur entstanden“
Das Besondere, ja weltweit Einmalige an diesem und anderen figürlichen Funden ist, dass „es solche kleinformatigen Elfenbein-Figuren nur auf der Schwäbischen Alb in vier Fundstellen aus der Zeit zwischen 42 000 und 38 000 gibt“, unterstreicht Ria Litzenberg. „Es gab offenbar Glaubens- und Darstellungstraditionen, die über Generationen weitergegeben wurden.“
Der Otter aus dem Hohle Fels illustriert, wie wertvoll die steinzeitlichen Fundstätten sind. „Auf der Schwäbischen Alb ist die Menschheit und Kultur, wie wir sie kennen, entstanden“, unterstreicht Nicolas Conard. Die „besten und ältesten Belege für die Entstehung der menschlichen Kultur“ stammten aus dem südwestdeutschen Karstgebirge. „Die Bedeutung dieser Region für die Menschheitsgeschichte und die universelle kulturelle Entwicklung ist einmalig und fantastisch.“