Carmen Holinka: „Die Strukturen im Frauenfußball müssen sich ändern“

Interview Carmen Holinka, als Trainerin einst beim DFB und nun in Großaspach tätig, spricht über die Weiterentwicklung des Frauenfußballs seit ihrer Zeit als Bundesliga-Spielerin und darüber, was noch zu tun ist. Die 54-Jährige richtet den Blick zudem auf die morgen beginnende WM.

Carmen Holinka hat als Spielerin viele Stufen der Karriereleiter erklommen und auch als Trainerin schon einiges erreicht. Foto: Tobias Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Carmen Holinka hat als Spielerin viele Stufen der Karriereleiter erklommen und auch als Trainerin schon einiges erreicht. Foto: Tobias Sellmaier

Ihr Vater versprach Ihnen 1979 als Zehnjährige vor Ihrem Debüt im Mädchenteam des TSV Ludwigsburg fünf D-Mark für ein Tor. Beim 36:0 trafen Sie 26-mal. Was haben Sie mit 130 Mark gemacht?

Ich habe sie zunächst gar nicht bekommen, mein Vater wollte nicht auszahlen (lacht). Das hat sich erst auf Druck meiner Oma geändert, die zu ihm gesagt hat: Willi, das kannst du nicht machen. Ich habe mir Copas gekauft. Das waren die besten Fußballschuhe und sie sind es heute noch, aber die konnte damals kaum jemand bezahlen.

Zum Vergleich: Was haben Sie 1997 an Punkt- und Titelprämien kassiert, als Sie mit dem SV Grün-Weiß Brauweiler das Triple aus deutscher Meisterschaft, DFB-Pokal und Supercup gewannen?

Zur damaligen Zeit spielte keine Frau aus finanziellen Gründen, das war undenkbar. Die Punktprämien waren mehr oder weniger ein Taschengeld, wir haben 100 D-Mark für einen Sieg bekommen. Für das Triple gab es einen Minigoldbarren obendrauf, der war vielleicht 100, 150 D-Mark wert. Zudem haben wir über Sponsorenverträge noch Fußballschuhe gekriegt oder konnten uns kostenlos ein Auto leihen, aber das war es.

Haben Sie das mit Blick auf die Topstars bei den Männern, die schon damals durchaus Millionen im Jahr scheffeln konnten, als ungerecht empfunden?

Absolut. Wir hatten schließlich einen ähnlichen Aufwand, haben viermal in der Woche trainiert und sind samstags mit dem Flieger beispielsweise nach Potsdam gereist. Nach dem Spiel fuhren wir in Kleinbussen zurück, weil das billiger war. Wir waren spätnachts zu Hause und mussten am nächsten Morgen wieder zur Arbeit. Ich war OP-Assistentin in der Praxis unseres Mannschaftsarzts, im OP war um 14 Uhr Schluss – das hat ermöglicht, dass ich zum Training konnte.

Seit der DFB die Nationalspielerinnen nach dem EM-Triumph 1989 mit einem Kaffeeservice abspeiste, ist viel passiert. Die Gehaltsunterschiede zu Stars wie Manuel Neuer bleiben aber gewaltig. Ist das ein Skandal oder pure Mathematik, weil bei den Frauen zum Beispiel viel weniger Geld für die TV-Rechte fließt?

Das ist Mathematik, liegt an der Verteilung der Sponsorengelder und an den TV-Rechten. Dass es eine Einigung gab und die WM bei ARD und ZDF gezeigt wird, kam erst auf großen öffentlichen Druck zustande. Topspielerinnen wie Dzsenifer Marozsan oder Alexandra Popp verdienen heute trotzdem gutes Geld und können davon leben, aber die meisten Nicht-Nationalspielerinnen studieren oder gehen arbeiten. Das ist ja ein Ansatzpunkt von Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg, dass Bundesliga-Spielerinnen das hauptberuflich machen können.

Was muss passieren, damit sich die Gehälter in Zukunft doch noch angleichen?

Das werden wir nicht erleben, dafür sind die Dimensionen bei den Männern zu gewaltig. Mbappé, Messi – aber selbst die VfB-Spieler kriegen teilweise ihre zwei Millionen Euro, da wird eine Frau niemals hinkommen.

Dabei ist das Faninteresse doch da.

Stimmt. Bei Länderspielen sind zumindest die kleineren Stadien mit 10000 bis 15000 Zuschauern gefüllt, auch beim DFB-Pokalfinale in Köln hat sich das Interesse mit einem vollen Haus und fast 45000 Fans wieder gezeigt. Da tut sich was, aber die Strukturen müssen sich ändern. Ein Frauen-Länderspiel um 15 Uhr, wer soll das angucken? Am Abend stimmen die Einschaltquoten, dann ist es auch für die Sponsoren attraktiver und es kommt mehr Geld rein.

Morgen startet die Frauen-WM in Neuseeland und Australien. Hadern Sie in solchen Momenten damit, dass Ihnen Länderspiele verwehrt geblieben sind?

Ja, denn es war immer mein größter Traum, einmal für Deutschland zu spielen. Ich war unter Bundestrainerin Tina Theune-Meyer auch bei einem Lehrgang dabei, habe mich dann aber böse verletzt und hatte im Sturm mit Sandra Smisek und Birgit Prinz auch eine riesige Konkurrenz. Ich war als großgewachsene Spielerin zudem ein ganz anderer Typ, habe 70 Prozent meiner Tore mit dem Kopf erzielt. Tina Theune-Meyer bevorzugte kleine, wendige, schnelle Stürmerinnen.

Was trauen Sie dem Team um Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg bei der anstehenden Weltmeisterschaft zu?

Die Gruppenphase werden wir überstehen. Schwierigster Gegner ist Südkorea mit Trainer Colin Bell, der aus seiner Bundesliga-Zeit fast alle deutschen Spielerinnen kennt. Im Achtelfinale drohen uns Frankreich oder Brasilien, da stehen die Chancen fifty-fifty. Sollten wir das noch überstehen, geht es vielleicht gegen England, dann ist Schluss. Ich glaube, dass das Turnier für Deutschland spätestens im Viertelfinale vorbei ist.

Sie arbeiteten 13 Jahre beim DFB als Co-Trainerin im Juniorinnenbereich, holten mit der U 19 (2011) und der U 17 (2019) den EM-Titel. Welche WM-Teilnehmerinnen kennen Sie aus der Zeit?

Es sind 17 Spielerinnen, ich habe sie vorher gezählt. Lena Oberdorf war die Kapitänin in der U 15 und könnte der deutsche Star bei der WM werden. Lea Schüller traue ich die größte Überraschung zu. Sie steht im Sturm bislang in der zweiten Reihe, hat aber viele Eigenschaften, die eine Stürmerin braucht.

2021 kehrten Sie aus familiären Gründen ins Schwabenland zurück und wurden Individualtrainerin für die U 15 bis U 19 bei der TSG Backnang. Nun haben Sie bei der SG Sonnenhof Großaspach die U-15-Junioren übernommen. Was sind die größten Unterschiede bei der Arbeit mit Mädchen oder mit Jungs?

Mädchen sind wissbegieriger, können Dinge viel schneller umsetzen. Jungs sind athletischer, denken aber oft, dass sie schon sehr viel können, obwohl es noch gar nicht so ist. Mir persönlich macht die Arbeit mit Jungs mehr Spaß, weil die Geschwindigkeit höher ist. Ich hätte im Nachhinein vielleicht früher wechseln sollen, aber ich hatte beim DFB ausschließlich Spielerinnen auf Topniveau.

Haben Sie persönliche Ziele, die Sie als Trainerin noch erreichen wollen?

Ich würde gerne mal ein Männerteam in einer hohen Klasse trainieren, aber mein absoluter Traum ist, im Nachwuchsleistungszentrum bei einem Profiverein zu arbeiten.

Deutschland startet am Montag gegen Marokko in die WM. Sitzen Sie um 10.30 Uhr vor dem TV-Gerät und wenn ja, sind für Sie auch die weiteren Partien am frühen Morgen, Vormittag und Mittag absolute Pflichttermine?

Es wären Pflichttermine, müsste ich nicht arbeiten. Das zweite Spiel kann ich gucken, da es sonntags ist. Beim letzten Vorrundenspiel donnerstags um 12 Uhr werde ich versuchen, ob ich früher Feierabend oder Mittagspause machen kann. Falls nicht, schaue ich es mir eben danach in der Mediathek an.

Glauben Sie oder wünschen Sie es sich zumindest, dass auch einige Jungs, die Sie trainieren, die WM verfolgen?

Wünschen würde ich es mir auf jeden Fall. Ich glaube es auch, weil der Frauenfußball in den letzten zehn Jahren viel athletischer und schneller geworden ist und technisch auf einem hohen Niveau gespielt wird.

Das Gespräch führte Steffen Grün.

Zur Person

Spielerin Die am 16. Dezember 1968 geborene Carmen Holinka beginnt mit zehn Jahren in ihrer Heimatstadt bei den Juniorinnen des TSV Ludwigsburg mit dem Fußball. Ab 1984 bis zum Übergang zu den Aktiven ist sie an den Wochenenden oft doppelt im Einsatz – fürs Mädchen- und fürs Frauenteam. 1991 steigt der TSV als Württembergischer Meister in die damals zweigleisige Erste Bundesliga auf. Nach zwei Runden geht es wieder in die Verbandsliga runter, aber die Stürmerin bleibt mit ihrem Wechsel zum VfL Sindelfingen im Oberhaus. 1995 zieht sie zum SV Grün-Weiß Brauweiler weiter, das Rheinland wird lange Zeit zur Wahlheimat.

Meisterin Der Karrierehöhepunkt ist die Saison 1996/1997. Carmen Holinka hat mit 27 Toren großen Anteil am deutschen Meistertitel, das Duell um die Rolle der Torschützenkönigin entscheidet Birgit Prinz mit einem Elfmeter am letzten Spieltag nur knapp für sich. Den DFB-Pokal sichert sich Brauweiler mit dem 3:1 im Finale im Olympiastadion in Berlin gegen den FC Eintracht Rheine. Holinka sorgt mit ihrem Tor für den Endstand und schnappt sich später das Trikot von Giovane Elber, der im anschließenden Männerfinale beim 2:0 für den VfB Stuttgart gegen Cottbus beide Treffer erzielt. Mit dem Supercup schafft Brauweiler auch das Triple. 1999 geht Holinka zum SC Bad Neuenahr, ein Jahr später beendet sie ihre Karriere. Ein Mittelfußbruch ist der letzte Auslöser.

Trainerin Los geht die zweite Laufbahn beim TuS Köln rechtsrheinisch in der damals zweitklassigen Regionalliga (2001 bis 2003). Weitere Stationen: Fußballverband Mittelrhein (2003 bis 2007), der DFB (2007 bis 2020, als Co-Trainerin von Bettina Wiegmann, Maren Meinert oder Ulrike Ballweg), die TSG Backnang (2021 bis 2023) und neuerdings die SG Sonnenhof Großaspach.

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Erstellt:
19. Juli 2023, 06:00 Uhr

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