Ein modernes Tennismärchen
Flüchtlingssohn Frances Tiafoe begeistert in Melbourne
Tennis - Der US-Amerikaner Frances Tiafoe (21) steht bei den Australian Open im Viertelfinale. Es ist der vorläufige Höhepunkt des Aufstiegs eines Mannes, der nicht nur für sich kämpft.
Melbourne/Stuttgart Der Sieger feiert, wie es sich für einen US-Sportstar gehört. Er reißt sich kurz nach dem Matchball das Shirt vom Leib, trommelt sich auf die muskulöse Brust und schreit seine Freude heraus. Doch endet die Siegershow jäh, als er zum ersten Interview gebeten wird. Jetzt steht da plötzlich ein junger Mann mit gesenktem Kopf und kann die Tränen nicht zurückhalten.
Es ist dann doch alles ein bisschen viel für Frances Tiafoe, der an seinem 21. Geburtstag sein Versprechen eingelöst hat.
Mit seinem Viersatzerfolg gegen den Bulgaren Grigor Dimitrow bei den Australian Open in Melbourne hat der Weltranglisten-39. zum ersten Mal das Viertelfinale eines Grand Slams erreicht. „Dieser Sieg bedeutet die Welt“, schluchzt Tiafoe. „Ich habe meinen Eltern vor zehn Jahren gesagt, dass ich Tennisprofi werde und dass ich ihr und mein Leben verändern werde. Ich kann es nicht fassen.“ Im Viertelfinale wird er Rafael Nadal gegenüberstehen, ein Preisgeld von knapp 300 000 Euro hat er jetzt schon sicher.
Es ist der vorläufige Höhepunkt eines modernen Sportmärchens, das 1993 in Sierra Leone beginnt. Sein Vater Constant flüchtet vor dem Bürgerkrieg in seiner Heimat in die USA, seine Mutter gewinnt drei Jahre später in der Greencard-Lotterie eine Aufenthaltsgenehmigung und folgt ihm. 1998 kommen Frances und sein Zwillingsbruder Franklin zur Welt. Während die Mutter als Krankenschwester Nachtdienste schiebt, wohnen die Söhne unter der Woche beim Vater, der im Junior Tennis Champions Center (JTCC) in College Park, Maryland, als Hausmeister beschäftigt ist. Sein Zwölf-Quadratmeter-Büro auf der Anlage dient den dreien elf Jahre lang als gemeinsamer Wohnraum.
Der Vater ist tüchtig genug, dass es den Söhnen erlaubt wird, in der sündhaft teuren Tennisschule ebenfalls Bälle zu schlagen. Sie tun es Tag und Nacht. Als sie sich beschweren, dass sie im Gegensatz zu den anderen Kindern No-Name-Klamotten tragen müssen, schickt sie der Vater zum Familienbesuch nach Sierra Leone. „Die Armut dort hat meinem Leben definitiv eine völlig andere Perspektive gegeben“, wird Frances später sagen. „Es hat mich demütig und ernsthaft gemacht. Ich entschloss mich, das Tennis zu nutzen, um nicht nur mir, sondern auch meiner Familie, die so viel geopfert hat, eine bessere Zukunft zu ermöglichen.“
Frances ist so talentiert und ehrgeizig, dass er bald einen eigenen Trainer bekommt. Und als die ersten Turniersiege im Nachwuchsbereich folgen, melden sich Sponsoren und Agenten, für die es wenig Interessanteres gibt als solch eine Tellerwäscher-Karriere. Mit 16 bekommt Frances 2014 seine erste Wildcard für die Qualifikation der US Open, mit 17 gewinnt er beim ITF-Futureturnier in Bakersfield seinen ersten Profititel. Im Februar 2018 folgt in Delray Beach der erste Sieg auf der ATP-Tour.
Aufgrund seiner Biografie und Hautfarbe ist Frances Tiafoe viel mehr als nur einer der nächsten Jungstars im Welttennis. Er verkörpert auch die Hoffnung, dass dieser Sport in den USA nicht mehr vornehmlich den Weißen vorbehalten bleibt. An rassistischen Tendenzen hat es zuletzt nicht gefehlt. Vor zwei Jahren übte John Isner nach seinem Sieg gegen Tiafoe bei den US Open harsche Kritik an Footballer Colin Kaepernick, der Ikone des Protests gegen Donald Trump und den Rassismus in den USA. Bei den Australian Open 2018 erregte Tennys Sandgrens Unterstützung der ultrarechten Alt-Right-Bewegung noch mehr Aufsehen als sein überraschender Einzug ins Viertelfinale.
Tiafoe ist der einzige schwarze Amerikaner in den Top 100 der Weltrangliste – und will dafür sorgen, dass es dabei nicht bleibt. „Ich würde gerne mehr Schwarze sehen, die Tennis spielen“, sagt er, „das ist eine große Sache, die ich vermitteln möchte.“ Als letzter Afroamerikaner gewann Arthur Ashe 1975 in Wimbledon einen Grand Slam. Es gibt nicht wenige, die davon überzeugt sind, dass Tiafoe der Nächste sein wird. Vielleicht nicht schon in Melbourne, aber irgendwann.