Liebe auf den zweiten Blick?
Bundestrainer Prokop geht auf die Mannschaft zu und wandelt sich
Für Christian Prokop ist die an diesem Donnerstag (18.15 Uhr/ZDF) gegen Korea beginnende Handball-WM seine zweite und letzte Chance. Hält der Burgfrieden zwischen dem Bundestrainer und seiner Mannschaft?
Stuttgart Rolf Brack erzählt die Geschichte, obwohl sie schon beim Zuhören wehtut. Als der Trainer-Ausbilder 2003 Christian Prokop beim A-Lizenz-Lehrgang unter seinen Fittichen hatte, verrät der damals 25-Jährige, dass er zwei Jahre davor zur Rettung seiner Spielerkarriere alles auf eine Karte setzte: Er schult wegen starker Knieprobleme an seinem linken Sprungbein nicht nur vom Rechts- zum Linkshänder um, sondern lässt sich unter Vollnarkose auch den linken Oberschenkel brechen, um eine Fehlstellung der Belastungsachse zu verändern. Aus X- wurden leichte O-Beine. Doch der Eingriff bringt nicht den erwünschten Erfolg. Über sechs B-Länderspiele kommt der gebürtige Köthener (Sachsen-Anhalt) nicht hinaus. Er muss die Karriere im Alter von 24 Jahren beenden.
Das Kuriosum aus seiner aktiven Zeit belegt die Einschätzung von Rolf Brack: „Er ist unglaublich innovativ, lernwillig und extrem ehrgeizig.“ Er ist ein Stratege, ein Tüftler, ein Tiefenforscher des Handballs – und vor allem ein Kämpfer. Bei der mit dem Eröffnungsspiel an diesem Donnerstag (18.15 Uhr/ZDF) gegen Korea in Berlin beginnenden WM bekommt er seine zweite Chance. Es ist seine letzte. Setzt der 40-Jährige nach seiner spektakulär misslungenen Premiere bei der EM vor einem Jahr (Platz neun) auch die Heim-WM in den Sand, ist er als Bundestrainer Geschichte. Trotz seines bis 2022 laufenden Vertrags.
Für den angestrebten großen Wurf hat er reinen Tisch gemacht. Nach den atmosphärischen Störungen in Kroatien mit der Entfremdung von der Mannschaft und der wochenlangen Hängepartie, ob er nach dem EM-Flop überhaupt weitermachen darf, ging Prokop erst in sich – und dann auf Reisen. Er sprach sich mit den Nationalspielern aus, allein mit dem Kapitän Uwe Gensheimer mehrere Stunden in Paris. Die gegenseitige Annäherung hat etwas von einem Burgfrieden. Jeder Einzelne stellt für seinen persönliche Karrierehöhepunkt alles hintan. Was zählt, ist der größtmögliche Erfolg bei der Heim-WM.
Für die Rückkehr auf den Handball-Thron hat Prokop einen fast schon radikalen Wandel vollzogen. „Es kann schon sein, dass ich zu sehr engstirnig gedacht habe und vor allem die erfahrenen Spieler zu wenig in entscheidende taktische Absprachen involviert habe. Das habe ich verändert und angepasst“, sagt er beim Blick in den Rückspiegel. Bei der Aufarbeitung zeigt er sich äußerst selbstkritisch, fast schon demütig. Vielen ist das eine Spur zu viel „Asche auf mein Haupt“: „Meine Erfahrung sagt mir, dass im Profisport diese Ehrlichkeit nicht belohnt wird“, sagt Rolf Brack.
Auffallend ist: Nachdem der Versuch Prokops missriet, sich von seinem Vorgänger Dagur Sigurdsson abzugrenzen, übernimmt er nun wieder vieles vom Europameister-Trainer von 2016. Im sportlichen Bereich hat er die Ausbootung von Abwehrchef Finn Lemke schon vor einem Jahr korrigiert.
Auf der Spielmacherposition vollzog Prokop erst jetzt einen Kulturwandel, setzt in Fabian Wiede auch auf einen Linkshänder, was er früher rigoros ausschloss. Noch gravierender sind die Veränderungen abseits des Felds. Es wird nicht mehr in der Abgeschiedenheit dreimal pro Tag trainiert und noch stundenlanges Videostudium betrieben. Es reicht auch mal eine Einheit, und zur Zerstreuung geht es in die Stadt oder wie im Sommer zum Teambuilding nach Japan. Prokop ist kommunikativer, offener geworden. Der nach wie vor detailversessene Perfektionist will, so seine eigenen Worte, die „Offline-Phasen bewusster nutzen“. Er werde versuchen, „mit Joggingrunden und kurzen Saunagängen immer wieder kleine Pausen“ einzulegen. Tipps holte er sich in der Familie: von Vater Heinz, ehemaliger Handball-Trainer und gleichzeitig sein wichtigster Ratgeber. Ebenso von Ehefrau Sabrina, einer Pädagogin, mit der er die Kinder Anna (6) und Luca (3) hat und mit der er viel über teamsportspezifische Dinge wie Charaktere und Emotionalität spricht. Damit nicht genug: Prokop tauscht sich neuerdings auch mit der Handball-Ikone Heiner Brand aus, außerdem arbeitet er mit einem Mentalcoach zusammen, Kontakte zum Ex-Hockey-Bundestrainer und -HSV-Sportdirektor Bernhard Peters will er nicht bestätigen.
Ob das alles reicht für eine Liebe auf den zweiten Blick zwischen ihm und der deutschen Nationalmannschaft? Die WM wird es zeigen. Die Reifeprüfung steht unmittelbar bevor. „Ich spüre, dass ich die Mannschaft nur noch loszulassen brauche“, sagte Prokop am Mittwoch voller Vorfreude.
Doch erst in Stresssituationen, die es seit dem Systemabsturz beim EM-Hauptrunden-Aus gegen Spanien (27:31) im vergangenen Januar nicht mehr gab, wird sich zeigen, wie es um die Akzeptanz Prokops und um den neuen Geist in der Mannschaft bestellt ist – und ob das zerbrechlich wirkende Gebilde tatsächlich stabil ist.
Christian Prokop ist innovativ, lernwillig und extrem ehrgeizig.
Rolf Brack Trainer-Ausbilder des Bundestrainers