Jüngster Schach-Weltmeister der Geschichte

So dramatisch gewinnt Dommaraju Gukesh den WM-Titel

Der erst 18 Jahre alte Inder Dommaraju Gukesh ist neuer Schach-Weltmeister. Er profitiert von einem brutalen Fehler des Titelverteidigers Ding Liren, dem geradezu dramatische Szenen folgen.

Dommaraju Gukesh (links) nimmt die Glückwünsche des geschlagenen Weltmeisters Ding Liren entgegen.

© dpa/FIDE

Dommaraju Gukesh (links) nimmt die Glückwünsche des geschlagenen Weltmeisters Ding Liren entgegen.

Von Norbert Wallet

Die brutalsten Schläge treffen unverhofft. Sie kommen aus dem Nichts und zerstören alles. Über fünf Stunden dauert die Partie zwischen dem chinesischen Titelverteidiger Ding Liren und seinem indischen Herausforderer Dommaraju Gukesh bereits. Es ist die 14. und letzte Partie der Schach-Weltmeisterschaft in Singapur. Eigentlich ist die Schlacht schon geschlagen. Alle Stürme sind überstanden, alle Untiefen umschifft. Das Brett ist ziemlich leer, die Stellung ausgeglichen. Der Rest sollte ein rasches Unentschieden sein. Dann wäre an diesem Freitag ein Tie-Break mit drastisch verkürzter Bedenkzeit fällig gewesen. Das Elfmeterschießen des Schachs sozusagen.

Doch dann schlägt aus heiterem Himmel der Blitz ein, und Schachgeschichte wird geschrieben. Ding verliert einen Augenblick lang die Konzentration. Er bietet einen Tausch der letzten Türme an, und alles soll sich zum Friedensschluss fügen. Welch ein Trugschluss. Der Chinese übersieht die folgende Abwicklung, an deren Ende sich ein Bauer des Inders zur Dame umwandeln kann. Das Ende.

Ding bemerkt seinen Fehler zunächst nicht

Der Chinese sieht seinen Fehler zunächst nicht. Gukesh sieht ihn sofort. Was heißt sehen? Er fühlt ihn wie einen elektrischen Schlag. Er fährt in seinem Stuhl hoch, kann nicht fassen, was ihm gerade widerfährt. Die Kameras zeigen, wie sein Atem schneller wird. Wie seine Hände sich in schierem Unglauben vor den Mund legen. Wie er zur Wasserflasche greift, um sich zu beruhigen. Wie er dann aufsteht und einige Schritte macht, um klare Gedanken zu fassen. Und unerbittlich zeigen sie auch, wie Ding sich unter Schmerzen windet, seinen Kopf auf den Tisch legt, sich durch die Haare fährt, dann die Uhr abstellt und seinem Gegner die Hand reicht. Aus dem Zuschauerraum brandet der frenetische Jubel des Publikums bis in die eigentlich schalldichte Kabine der Spieler. Jetzt steht es fest: Der 18-jährige Inder Gukesh ist der jüngste Schach-Weltmeister in der Geschichte des königlichen Spiels.

Was folgt, ist eine Pressekonferenz in Stil und Würde. Ding, den Tränen nahe, findet wenige, aber ergreifende Worte. Er spüre „kein Bedauern“, das Ergebnis sei „ein faires Resultat“. Und dennoch habe er „eines der besseren Turniere in diesem Jahr gespielt“. Das kann man so sagen. Ding kam mit einer traurigen Serie von über 300 Tagen ohne einen einzigen Sieg in dieses Match. Auch eine Folge von Depressionen, mit denen er immer wieder zu kämpfen hatte. Kaum ein Experte hatte ihm daher Chancen eingeräumt. Ding aber hatte große Widerstandsfähigkeit gezeigt und das Match bis in die letzten Minuten offen gestaltet. Nach seinen wenigen Sätzen verlässt er das Podium. Das ist so abgesprochen. Er will nur noch weg.

Gukesh würdigt den unterlegenen Chinesen

Gukesh steht respektvoll auf, applaudiert, als Ding den Saal verlässt. Die Bühne gehört dem neuen Weltmeister. Der Inder mag erst 18 Jahre alt sein. Aber er zeigt auch diesmal, wie in allen diesen Pressekonferenzen, eine erstaunliche Reife. Im Stile eines britischen Gentlemans aus dem 19. Jahrhundert will er erst gar nicht über sich sprechen. Er spricht über Ding. „Ein wahrer Champion“ sei der Chinese. Einen großen Kampf habe er gezeigt. Danken möchte er ihm. „Es tut mir sehr leid für ihn.“ Solche Sätze, solche Empathie, nachdem gerade ein Lebenstraum wahr geworden ist. Seit zehn Jahren habe er auf diesen Moment hingearbeitet, sagt Gukesh und redet dann doch über sich. „Es ist der schönste Moment meines Lebens.“

Der 18-Jährige ist der erfolgreichste, aber nicht der einzige Repräsentant der zweiten indischen Welle im Schachsport. Erst im August hat sowohl das indische Herren- als das Frauenteam bei der Schach-Olympiade Gold gewonnen. Längst sind ein halbes Dutzend indischer Talente in den vordersten Rängen der Weltrangliste zu finden. Sie alle stehen auf den Schultern eines Riesen. Vishy Anand, der 15. Schach-Weltmeister. Als er im Jahre 2013 im indischen Chennai seinen Titel an den Norweger Magnus Carlsen verloren hatte, war der junge Gukesh im Saal. „Da habe ich mir gesagt: Ich will derjenige sein, der den Titel zurück in mein Land bringt.“ Nun hat er es geschafft. Vielleicht ist es der Beginn einer neuen Ära im Schach.

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Erstellt:
12. Dezember 2024, 16:22 Uhr

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