Suche nach der goldenen Mitte
Bundestrainer Prokop setzt auf Zweitligaspielmacher Strobel
Deutschland setzt bei der WM in dem Balinger Martin Strobel auf einen Denker und Lenker aus der zweiten Liga. Andere Länder tun sich auf der Spielmacherposition leichter.
Stuttgart Wenn Ivano Balic Handball spielte, dann war das so, fanden seine Fans, als würde man Gott bei der Arbeit zusehen, nur dass es nicht wie Arbeit aussah. Der Kroate war der Schöpfer genialer Momente. Wer ihn in seinem Team hatte, brauchte keine Spielzüge – er war der Spielzug. Mal zog er auf Rückraum Mitte in Ruhe die Fäden, dann zauberte er blitzschnell eine Idee für den Mitspieler hervor oder stellte mit einem explosiven Schritt in die Tiefe, im Kampf Mann gegen Mann Überzahl her.
Jede große Mannschaft der Handballgeschichte besaß ein solches Gehirn. Nun tut man Martin Strobel keinen Gefallen, wenn man ihn mit Weltklasseregisseuren wie Balic, dessen Landsmann Hrovje Horvat, mit Magnus Wislander (Schweden) oder Jackson Richardson (Frankreich) vergleicht. Doch der Rückraummann vom HBW Balingen-Weilstetten kommt diesem Spielmachertypus in Deutschland eben am nächsten. „Ich setze auf Martin, weil ich gerade auf dieser zentralen Position Spieler schätze, die eine gewisse Aura ausstrahlen und ein großes Spielverständnis mitbringen“, begründet Bundestrainer Christian Prokop seine Entscheidung. Dass er damit einem Zweitligaspieler auf dieser wichtigen Position in der Schaltzentrale mehr vertraut als Erstligaprofis, ist ihm egal. „Martin steuert das Spiel auf taktisch hohem Niveau, er macht wenig Fehler und bringt eine hohe Passgeschwindigkeit ins Angriffsspiel ein. Ich würde ihm das bei jedem Erstligisten zutrauen“, ergänzt Prokop.
Martin Strobel kennt die Wertschätzung des Bundestrainers. Dennoch sei er „schon überrascht gewesen“, als ihn Prokop vor dem Lehrgang im vergangenen Oktober mit dem verlockenden Angebot konfrontierte. Strobel saß damals mit Ehefrau Jenny und Söhnchen Peer (3) gerade im Auto, als das Handy bimmelte.
An einem Abend kurz vor Weihnachten gab er vor dem Training in der Balinger Sparkassen-Arena an einem Stehtisch auf der Tribüne Einblicke in sein Seelenleben. Natürlich musste er nicht lange grübeln, um seinen Rücktritt vom Rücktritt zu erklären. Offiziell war es nur eine Pause, die er sich im Herbst 2016 nach dem EM-Titel in Polen und Olympia-Bronze in Rio auferlegt hatte. Wie auch immer: Er hatte innerlich mit der Nationalmannschaft abgeschlossen, für die er bisher 138-mal (156 Tore) gespielt hat. Und jetzt? Brennt er wieder. „Es ist für jeden Sportler das Größte, eine Heim-WM zu spielen. Es ist ein riesiger Reiz, hier vor vollen Hallen mit über 10 000 Fans am Ball zu sein.“
Strobel sagt diese Sätze betont ruhig, voller Gelassenheit. Er ist ein zurückhaltender Mensch, kein Lautsprecher, keiner der sich zu wichtig nimmt. Manche haben diese innere Ruhe schon mit Langeweile verwechselt und würden sich wünschen, dass er mehr aus sich herausgeht und auch auf dem Spielfeld seine Mitspieler lauter zurechtweist. Strobel sind diese Vorurteile gegen sein Naturell und seine Spielweise bekannt: Auch seine mangelnde Torgefahr wird immer wieder kritisiert.“ Strobel donnert keine 18 Treffer in einem Spiel ins Netz wie Michael „Mimi“ Kraus vergangenen Oktober für den TVB Stuttgart, aber er verliert auch kein Spiel im Alleingang, weil er in hektischen Phasen den kühlen Kopf verliert. Wenn Kraus der extrovertierte Popstar des Handballs ist, dann ist Strobel schlicht der Normalo.
„Ich trete auch mit wenigen Worten bestimmt auf“, sagt Strobel selbstbewusst. Er genießt eine hohe Akzeptanz bei seinen Mitspielern. Er ist ein ähnlicher Typ wie Markus Baur, der Deutschland 2007 zum WM-Titel führte – mit Kraus an seiner Seite. Auch jetzt hätten sich viele Strobel und Kraus im WM-Kader gewünscht, zumal die beiden nicht nur schon gemeinsam im Nationalteam spielten, sondern drei Jahre auch zusammen beim TBV Lemgo am Ball waren und mit dem Bundesligisten 2010 den EHF-Pokal gewannen. Doch Prokop ließ Kraus zu Haus.
Der Stratege Strobel im Team ist ihm für die Heim-WM wichtiger. Womit sich die Frage stellt: Warum tut sich Deutschland so schwer bei der Suche nach der goldenen Mitte im Rückraum? Hört man sich bei den Experten der Szene um, kommen interessante Antworten: Man lässt den Nachwuchs nicht seinen Spieltrieb ausleben. Wir sind zu solide. Es wird zu viel graue Masse ausgebildet, Eigenheiten nicht zugelassen. Egoismus wird nur negativ gesehen. Südländer werden bejubelt, wenn sie einen Gegenspieler spielerisch vorführen, in Deutschland wird das als Hochnäsigkeit ausgelegt. Und, und, und. Auffallend: Immer wieder bringt Kroatien geniale Spielmacher hervor. Für Vlado Stenzel, Deutschlands Weltmeistertrainer von 1978, liegt dies in der Mentalität begründet: „Der Kroate ist ein Geben-Mensch, berühmt für seine große Gastfreundschaft. Auch der Mittelmann muss mehr geben als nehmen. Der Grundgedanke eines Spielmachers sei, „andere zum Handballspielen zu bringen und sie gut aussehen zu lassen“.
Ein Lächeln blitzt auf bei Martin Strobel, wenn er diese Sätze hört. Ein bisschen sei an all den Einschätzungen etwas dran. Wie er selbst darüber denkt? Vielleicht habe man lange Zeit in Deutschland zu viel Wert auf die Athletik gelegt, zu wenig auf die Kreativität und dabei „vernachlässigt, dass die Spieler das Spiel auch verstehen“.
Martin Strobel versucht auch mal „ums Eck zu denken“. Er setzte sich vor der WM nicht nur an seinem Laptop mit unterschiedlichsten Angriffs- und Abwehrsystemen der Nationalmannschaft auseinander, er verschlang auch Bücher über Führungspersönlichkeiten, Persönlichkeitsentwicklung und Menschenkenntnis. „Wir wollen bei der WM ein Ziel erreichen. Da können wir nicht aneinander vorbeireden“, sagt er – und beweist: Esprit, Ideen und taktische Intelligenz hängen nicht von der Liga ab.