EM 2024
Viel Trubel rund um die türkische Nationalelf
Die rechtsextreme „Wolfsgruß“- Geste, der Besuch des Präsidenten Erdogan in Berlin – es steckt viel Brisanz im Viertelfinale der Türkei gegen die Niederlande. Kenan Kocak war Co-Trainer der Nationalelf und ist mit dem Auftritt der Türken trotz des Erfolgs unzufrieden.
Von Heiko Hinrichsen
Sportlich geht es für die Türkei um den ersten Einzug in das Halbfinale einer EM seit 2008, wo damals im Baseler St. Jakob-Park gegen die deutsche Elf beim 2:3 Endstation war. Nun tritt die Nationalelf vom Bosporus im Viertelfinale an diesem Samstag (21 Uhr/RTL) im Berliner Olympiastadion an, wo gegen die Niederlande bei allein 200 000 in der Bundeshauptstadt lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln quasi ein Heimspiel ansteht.
Während der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan extra eine geplante Aserbaidschan-Reise abgesagt hat, um im Stadion live mit dabei zu sein, spricht die Berliner Polizei auch angesichts der „Wolfsgruß“-Debatte von einem „Nonplusultra-Hochrisikospiel“. Für seine rechtsextremistische Geste beim 2:1 Achtelfinal-Sieg über Österreich ist der zweifache Torschütze Mehir Demiral nun für zwei Spiele gesperrt worden, fehlt also gegen das Team Oranje.
Während die Ordnungshüter in Berlin „alles in den Dienst rufen, was laufen kann“, konzentriert sich Kenan Kocak lieber auf den Fußball. Bis zum 9. September des Vorjahres ist der Fußballlehrer Kocak, geboren im türkischen Kayseri und fußballerisch aufgewachsen beim SV Waldhof Mannheim, an der Seite von Chefcoach Stefan Kuntz der Co-Trainer der türkischen Nationalelf gewesen. „Im aktuellen EM-Kader ist kein Spieler dabei, den wir nicht mit aufgebaut haben“, sagt der 43-Jährige, der bereits die Zweitligisten SV Sandhausen und Hannover 96 trainiert hat.
Nachdem man die Qualifikation für die WM in Katar in den Play-offs verspielt hatte, ging es bergauf: In der Nations League kletterte das Team eine Stufe höher. Kuntz und Kocak stellten im Verbund mit Hamit Altintop, dem Sportvorstand des Verbandes, eine neue Mannschaft auf. 22 Talente mit einem Altersdurchschnitt von 22,7 Jahren gaben unter ihnen ihren Einstand im Nationalteam.
Zwei Herzen in einer Brust
Aktuell schlagen aber zwei Herzen in Kocaks Brust. „Fußball ist kein Eiskunstlauf, man bekommt keine Haltungsnoten – es zählen die reinen Ergebnisse. So gesehen läuft es bei der Türkei mit dem Erreichen des Viertelfinales sehr gut“, sagt Kocak, der ebenfalls ging, als Kuntz nach einer Niederlage gegen Japan, der fünften im 20. Länderspiel, seinen Hut nehmen musste. Mit einem Punkt hinter Kroatien lagen die Türken da drei Spieltage vor Ende der Qualifikation auf Platz zwei. „Wir waren auf Kurs.“
Dennoch übernahm der Italiener Vincenzo Montella, der zuvor den Erstligisten aus Adana trainiert hatte. Doch Kocak ist nicht restlos überzeugt vom EM-Auftritt der Türken, trotz dreier Siege in vier Partien: „Inhaltlich agiert die Mannschaft nicht immer gut“, sagt er, denn das Team erspiele sich so gut wie keine Torchancen. „Die gefährlichen Situationen resultieren fast alle aus Einzelleistungen – oder aus Standards“, erklärt der ehemalige Co-Trainer, so wie etwa beim Sieg über Österreich. Dabei habe man die Spieler dazu, um dominanter aufzutreten.
Was Kocak positiv stimmt: „Die Unterstützung von den Rängen ist schon wahnsinnig gut. Das Team hat ja in Deutschland Heimspiele. Das treibt die Spieler natürlich an.“ Gerade in Berlin, wo die „Wolfsgruß“-Geste des 26 Jahre alten Demiral allerdings Schatten auf das Viertelfinale gegen die Niederlande wirft. Der Doppeltorschütze hatte nach seinem zweiten Treffer gegen Österreich in Leipzig mit beiden Händen das Handzeichen und Symbol der „Grauen Wölfe“ geformt – und damit für viel Empörung gesorgt. Als „Graue Wölfe“ werden die Anhänger der rechtsextremistischen „Ülkücü-Bewegung“ bezeichnet, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Kenan Kocak bleibt lieber beim Sport – und lobt hier vor allem den Torhüter Mert Günok von Besiktas Istanbul: „ Für mich ist er der beste Torwart des Turniers, er hat die Mannschaft mehrfach im Turnier gehalten“, sagt der 43-Jährige, der in Kapitän Hakan Calhanoglu, in Baris Alper Yilmaz sowie dem 19 Jahre jungen Arda Güler von Real Madrid weitere Stützen sieht.
Trotz seiner Kritik sieht Kocak mit Blick auf das Spiel am Samstag gute Chancen für die Türken. „Die Jungs haben Qualität – und die Niederländer haben mich bisher nicht überzeugt.“