Chef der Fis-Materialkommission

Wie kam es zu diesem Skisprung-Desaster, Andreas Bauer?

Der Oberstdorfer leitet die Materialkommission des Ski-Weltverbandes – und hat den Betrug des norwegischen Skisprung-Teams bei der WM in Trondheim aus nächster Nähe miterlebt. Andreas Bauer spricht über den Imageschaden und neue Wege bei den Kontrollen.

Im Fokus: Weltmeister Marius Lindvik, einer der disqualifizierten norwegischen Skispringer.

© dpa/Georg Hochmuth

Im Fokus: Weltmeister Marius Lindvik, einer der disqualifizierten norwegischen Skispringer.

Von Jochen Klingovsky

Dem Skispringen droht ein Systemabsturz. Auch Andreas Bauer, einer der maßgeblichen Funktionäre im Ski-Weltverband, zeigte sich nach dem Material-Doping der Norweger bei der WM in Trondheim erschüttert. Künftig will er bei den Kontrollen auf moderne Technik setzen.

Herr Bauer, Sie waren Jury-Mitglied in Trondheim, haben den Skandal um das norwegische Team aus nächster Nähe erlebt. Wie konnte es dazu kommen?

Es hat schon die ganze WM über rumort unter den Trainern, man hat sich genau beobachtet, Sprünge der Konkurrenz gefilmt.

Und dann tauchte kurz vor dem letzten Springen von der Großschanze ein anonymes Video auf.

Richtig. Darin war zu sehen, wie vom norwegischen Team Anzüge komplett aufgetrennt worden sind und etwas eingenäht wurde. Daraufhin haben wir die Norweger einbestellt und alle Anzüge noch einmal gründlichst kontrolliert – die Größe, die Nähte, die Luftdurchlässigkeit. Wir haben nichts gefunden. Es folgte während des Springens der Protest von drei Nationen, woraufhin wir die vier norwegischen Athleten nach dem ersten Durchgang nochmals überprüft haben. Der Anzug von Kristoffer Eriksen Sundal war zu groß, er wurde disqualifiziert.

Hätten Sie da nicht hellhörig werden müssen?

Nein. So etwas kann immer mal wieder passieren. Alle Skispringer gehen bei der Größe der Anzüge an die Grenzen. Das kann zum Ausschluss führen, ist an sich aber noch nicht verwerflich.

Wie ging es weiter?

Bei der Endkontrolle der besten sechs Athleten fiel nach dem WM-Wettkampf auf, dass die Anzüge von Marius Lindvik und Johann Andre Forfang vom Knie bis zum Schritt eine geringe Dehnfähigkeit aufwiesen und der Stoff fest war. Daraufhin haben wir die Anzüge öffnen lassen.

Wieso geht das erst nach dem Springen?

Weil der Anzug damit zerstört ist.

Was haben Sie entdeckt?

Ein eingenähtes, starres Band. Dies macht den Anzug steifer und fester, zieht den Schritt nach unten. Dadurch verbessern sich die Flugeigenschaften.

Danach machte das Wort vom Material-Doping die Runde.

Es war eine von langer Hand geplante, systematische Manipulation.

Der norwegische Verband hat diesen Betrug zugegeben, behauptet aber, nur vor dem letzten Springen manipuliert zu haben. Wie glaubwürdig ist das?

Dazu kann ich in meiner Position keine Vermutungen äußern. Aber es stellt sich natürlich die Frage, warum der Anzug von Marius Lindvik, der bis dahin zwei Gold- und eine Bronzemedaille gewonnen hatte, gerade jetzt optimiert werden musste. Er war doch bis dahin schon super erfolgreich.

Marius Lindvik hat erklärt, nichts gewusst zu haben. Ist das vorstellbar?

Auch darüber darf ich nicht spekulieren. Aus meiner Erfahrung heraus würde ich jedoch sagen, dass ein Springer so eine Veränderung am Anzug spätestens beim Absprung am Schanzentisch spürt – aber ich kann das nicht beweisen.

Es gab schon die gesamte Saison über Gerüchte, dass sich einzelne Nationen beim Material Vorteile verschaffen würden. Warum wurde vom Ski-Weltverband Fis nicht früher reagiert?

Ich muss noch einmal deutlich sagen, dass es sich um zwei verschiedene Dinge handelt.

Wie meinen Sie das?

Alle Skisprung-Teams tüfteln extrem an ihrem Material herum, reizen die Regeln voll aus. Dabei kann es auch mal zu Überschreitungen kommen. Das ist das normale Tagesgeschäft, es gehört dazu, wir werden das nicht ändern können. Doch das, was die Norweger jetzt bei der WM in Trondheim gemacht haben, habe ich in meinen 50 Jahren im Skispringen noch nie erlebt. Das ist eine ganz andere Dimension.

Weshalb?

Für alle, die viel Herzblut in diesen tollen Sport einbringen, ist diese wissentliche Manipulation ein Tiefschlag. Ich bin extrem enttäuscht von den Norwegern, die sich diese Art des Betrugs offenbar bewusst für die WM aufgehoben und damit eine ganze Sportart in Mitleidenschaft gezogen haben. Das ist extrem bedauerlich und schade.

Wären die Norweger ohne das Video mit ihrem Betrug durchgekommen?

Bei dieser WM wahrscheinlich schon.

Warum?

Weil man einen Anzug erst nach einem konkreten Verdacht auftrennen und somit zerstören kann. Deshalb kann den Kontrolleuren auch kein Vorwurf gemacht werden – von außen war dieser Betrug nicht zu erkennen, sie haben in der Folge sehr konsequent und transparent gehandelt.

Was könnte getan werden, um die Kontrollen zu verbessern?

Ich bin seit Sommer im Amt. Meine erste Maßnahme war, die Zahl der Anzüge zu begrenzen. Früher hatten Springer bis zu 70 Anzüge, nun sind nur noch acht pro Saison erlaubt. Das wird mit Mikrochips überwacht, dieses System funktioniert. Damit haben wir die Materialschlacht eingedämmt. Mein Ziel ist, nun auch die Kontrollen zu verändern.

Wie?

Bisher wird alles händisch überprüft, menschliche Messungenauigkeiten sind nicht auszuschließen. Wir müssen jetzt so schnell wie möglich auf die moderne Technik umsteigen und 3-D-Scanner nutzen – wie am Flughafen.

Kann das funktionieren?

Davon bin ich überzeugt. Wir können die Körpermaße der Springer scannen und wir können sie anschließend in den Anzügen scannen. Ich bin mir sicher, dass dies, was die Fairness angeht, die Kontrollen auf ein neues Level heben wird. Denn so lässt sich jeder Zentimeter des Anzugs schnell und genau überprüfen – vor, während und nach dem Wettkampf. Mit der modernen Technik werden wir es schaffen, Betrügereien dieser Art künftig zu verhindern. Und es würde auch das Feilschen um Zentimeter beenden.

Wie sehr schadet der Skandal bei der WM dem Image des Skispringens?

Sehr. Wir haben ein Desaster erlebt. Dieses beschränkt sich zwar nur auf eine Nation, trotzdem kann ich nur hoffen, dass wir beim Publikum und den Sponsoren das verlorene Vertrauen schnell wieder zurückgewinnen.

Befürchten Sie, dass künftigen Siegern grundsätzlich nicht mehr getraut wird?

Das kann ich nicht ausschließen. Deshalb hat mir Domen Prevc am Samstag auch extrem leidgetan. Er wurde mit einem sauberen Anzug und einer Top-Leistung Weltmeister. Doch das ging komplett unter. Dafür tragen die Norweger die Verantwortung.

Müssten nun nicht eigentlich alle WM-Ergebnisse des norwegischen Skisprung-Teams gestrichen werden?

Ich kann nicht ausschließen, dass es so kommt. Doch für die Sanktionen ist die Ethikkommission der Fis zuständig, die den Fall nun genau untersuchen wird. Ich hoffe, dass alle Details auf den Tisch kommen – noch haben die Norweger viele Fragen unbeantwortet gelassen.

Gibt es nun, vor den nächsten Springen im Weltcup, mögliche Schnellmaßnahmen?

Um ein faires Ende der Saison hinzubekommen, wäre mein Vorschlag: Wir lassen pro Springer nur noch einen Anzug zu und prüfen diesen auf Herz und Nieren. 30 Minuten vor Wettkampfbeginn werden die Anzüge ausgegeben und unmittelbar nach dem Springen wieder in die Obhut der Fis eingezogen. So können keinerlei Veränderungen mehr vorgenommen werden. Das müssten aber höhere Instanzen der Fis noch beschließen.

Andreas Bauer: Skispringen ist sein Leben

AthletAndreas Bauer (61) sprang zwölf Jahre im Weltcup. Sein größter Erfolg war der Sieg beim Neujahrsspringen 1987 in Garmisch-Partenkirchen.

TrainerVon 2011 bis 2021 war der Oberstdorfer Chefcoach der deutschen Skispringerinnen.

Funktionär Andreas Bauer sitzt seit 2018 in verschiedenen Gremien des Ski-Weltverbandes (Fis). Seit Sommer 2024 ist er Vorsitzender der Material- und Entwicklungskommission.

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Erstellt:
10. März 2025, 17:32 Uhr

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