Die Oscar-Nacht

Abend der Überraschungen

Sean Bakers Independent-Film „Anora“ schreibt bei den 97. Academy Awards Geschichte. Politisches bleibt außen vor – fast.

Sean Baker und seine Trophäen für „Anora“

© AFP/Frederic J. Brown

Sean Baker und seine Trophäen für „Anora“

Von Patrick Heidmann

Dass der Gewinner der Goldenen Palme in Cannes später auch zum großen Abräumer bei den Oscars wird, ist eher selten der Fall. Doch nach „Marty“ 1955 und zuletzt dem koreanischen Film „Parasite“ wurde nun auch „Anora“ erst beim Filmfestival in Südfrankreich und dann als Bester Film bei den Academy Awards ausgezeichnet. Und nicht nur das: Sean Bakers Geschichte über eine Stripperin, in die sich der junge Sohn eines russischen Oligarchen verguckt, der sie dann zum Ärger seiner Eltern sogar kurz entschlossen heiratet, wurde bei der 97. Oscar-Verleihung am Sonntagabend zum großen Abräumer.

Ein Film fernab des Mainstreams räumt groß ab

Baker ist ein Regisseur, wie er beim größten Filmpreis der Welt eher selten gefeiert wird. Seit 25 Jahren dreht der Amerikaner kleine Filme fernab des Mainstreams und der Produktionsmaschinerie Hollywoods, mit ganz eigener visueller, zeitgemäßer Handschrift. Immer wieder nimmt er dabei – mit einer Mischung aus dokumentarisch anmutender Wahrhaftigkeit und einer guten Portion Humor – Sexarbeit in den Fokus, im Falle von „Anora“ als eine Art Anti-„Pretty Woman“, in der Screwball und Tragik gleichermaßen auf den amerikanischen Traum treffen.

Den rund 10 000 abstimmenden Mitgliedern der Academy of Motion Picture Arts and Sciences gefiel dieses komplett unabhängig und für gerade einmal sechs Millionen Dollar auf die Beine gestellte Werk so gut, dass Baker am Ende Oscar-Geschichte schrieb. Über vier individuelle Oscars durfte sich der jungenhaft wirkende 54-Jährige am Ende freuen, in den Kategorien Bester Schnitt, Bestes Original-Drehbuch, Beste Regie und eben Bester Film. So viele gewann an einem Abend zuletzt Walt Disney 1953, allerdings für vier verschiedene Filme.

Dass „Anora“ sich nach einem von vielen als so offen und ausgeglichen wie selten wahrgenommenen Oscar-Rennen so klar gegen Mitfavoriten wie „Der Brutalist“ von Brady Corbet oder Edward Bergers Bestseller-Adaption „Konklave“ (die lediglich den Preis fürs beste adaptierte Drehbuch gewann) durchsetzte, darf durchaus als Überraschung gelten. Nicht zuletzt, weil sogar die 25-jährige „Anora“-Hauptdarstellerin Mikey Madison einen Oscar mit nach Hause nehmen konnte. Die große Comeback-Story des 90er Jahre-Stars Demi Moore, die für ihre Rolle als alternde Schauspielerin im Horrorfilm „The Substance“ zuvor den Golden Globe sowie den Preis der US-Schauspielgewerkschaft SAG gewonnen hatte, fand damit kein krönendes Ende.

Wer angesichts der aktuellen Weltlage und nicht zuletzt der aufgeheizten Stimmung in den USA eine hochpolitische Oscar-Verleihung erwartet hatte, sah sich im Dolby Theatre am Hollywood Boulevard getäuscht. Baker pries in seinen Dankesreden lediglich die einende Kraft von Filmen auf der großen Leinwand statt im Streaming. Aber auch der Moderator Conan O’Brien, der in seinem typisch trocken-schrägen Late-Night-Stil durch die Show führte, sparte in seinem ausführlichen Monolog zu Anfang die Tagespolitik fast komplett aus.

Ganz ohne politisch aufgeladene Statements blieb der Abend allerdings nicht. Adrien Brody, der sich in der Hauptdarsteller-Kategorie unter anderem gegen Timothée Chalamet durchsetzte und für das Nachkriegs-Epos „Der Brutalist“ seinen zweiten Oscar gewann, beschrieb seine Rolle als Repräsentation der Nachwirkungen von Krieg, systematischer Unterdrückung, Antisemitismus und Rassismus und verband seine Hoffnung auf eine glücklichere, inklusivere Welt mit den Worten: „Die Vergangenheit sollte uns daran erinnern, Hass nie ungehindert wuchern zu lassen.“ Zoe Saldaña, die für das französische Musical „Emilia Pérez“ als Beste Nebendarstellerin ausgezeichnet wurde, verwies in einer emotionalen Rede mit Blick auf Trumps verschärfte Einwanderungspolitik auf ihre Familiengeschichte und beschrieb sich selbst als „stolzes Kind von Einwanderer-Eltern“. Präsentatorin Daryl Hannah betrat, nur Tage nach dem Eklat im Weißen Haus, mit den solidarischen Worten „Slava Ukraini“ (deutsch: Ehre der Ukraine) die Bühne, und der Oscar für den Besten Dokumentarfilm ging an „No Other Land“.

Der dritte Oscar für den Deutschen Gerd Nefzer

In den USA hatte sich kein Verleih gefunden, der das schon auf der Berlinale 2024 geehrte Werk über den Widerstand der palästinensischen Bevölkerung gegen die israelische Besiedelung im Westjordanland, in die Kinos bringen wollte. Inszeniert wurde „No Other Land“ gemeinsam vom palästinensischen Aktivisten Basel Adra und dem israelischen Journalisten Yuval Abraham, der auf der Oscar-Bühne nun ein Ende der Zerstörung Gazas ebenso forderte wie die Befreiung der verbleibenden israelischen Geiseln des 7. Oktober 2023, aber auch betonte, wie sehr die aktuelle Außenpolitik der USA einer friedlichen Lösung für alle im Weg stehe.

Der ebenfalls hochpolitische, von Deutschland ins Rennen geschickte Film „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ des iranischen Regisseurs Mohammad Rasoulof ging leer aus. Als Bester Internationaler Film wurde der brasilianische Beitrag „Für immer hier“ geehrt. Auch andere deutsche Nominierte zogen den Kürzeren, von Kostümbildnerin Lisy Christl und Komponist Volker Bertelmann für „Konklave“ bis zu Tim Fehlbaum und Moritz Binder für das Drehbuch zu „September 5“. Der Spezialeffekte-Meister Gerd Nefzer immerhin durfte für „Dune: Part Two“ und die erneute Zusammenarbeit mit Regisseur Denis Villeneuve bereits seinen dritten Oscar einstecken.

Die Preise der 97. Academy Awards im Einzelnen

Bester Film: Anora

Beste Regie: Sean Baker – Anora

Bester Hauptdarsteller: Adrien Brody – The Brutalist

Beste Hauptdarstellerin: Mikey Madison – Anora

Bester Nebendarsteller: Kieran Culkin – A Real Pain

Beste Nebendarstellerin: Zoe Saldaña – Emilia Pérez

Bestes Originaldrehbuch: Anora

Bestes adaptiertes Drehbuch: Konklave

Bester internationaler Film: Für immer hier

Bester Animationsfilm: Flow

Bester Dokumentarfilm: No Other Land

Beste Kamera: The Brutalist

Bester Schnitt: Anora

Bestes Produktionsdesign: Wicked

Beste Kostüme: Wicked

Bestes Make-up &Hairstyling: The Substance

Beste Musik: The Brutalist

Bester Song: „El Mal“/ Emilia Pérez

Bester Sound: Dune: Part Two

Beste visuelle Effekte: Dune: Part Two

Zum Artikel

Erstellt:
3. März 2025, 14:40 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen