Internationale Filmfestspiele
Berlinale: Alle Bären sind verteilt
Die 75. Internationalen Filmfestspiele von Berlin sind mit der Preisgala zu Ende gegangen. Der neuen Intendantin Tricia Tuttle wird ein guter Start attestiert. Doch während politische Debatten auch dieses Festival dominierten, vergibt die Jury ihre Preise vor allem an scheinbar ganz private Geschichten.
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© dpa/Sebastian Gollnow
Die australische Schauspielerin präsentiert vor den Fotografen auf dem Roten Teppich ihren Silbernen Bären.
Von Patrick Heidmann
Am Ende setzte sich bei den 75. Internationalen Filmfestspielen Berlin das Private gegen das Politische durch. Die Wettbewerbsjury, zu der in diesem Jahr neben dem Vorsitzenden Todd Haynes unter anderem auch die Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader und die deutsche Kostümdesignerin Bina Daigeler gehörten, prämierte mit dem Goldenen Bären zum Festivalabschluss am Samstag nicht einen der Filme, die von den drängenden Problemen und Konflikten unserer Zeit erzählen – sondern „Drømmer“ (deutscher Titel: „Oslo Stories: Träume“) von Dag Johan Haugerund.
Dass der Hauptpreis des Festivals an diesen kleinen, intimen Film geht, ist ebenso verdient wie eine wundervolle Überraschung. Haugerund erzählt in „Drømmer“ ganz unaufgeregt und sensibel von der 16-jährigen Johanne (Ella Øverbye), die sich in ihre neue Lehrerin verliebt und mit wachsender Intensität deren Nähe sucht. Aber es geht in seiner berührenden Geschichte – weil das Mädchen seine Gefühle schriftlich festhält und schließlich mit Mutter und Großmutter teilt – auch um Generationsunterschiede und das Hinterfragen heteronormativer Geschlechterrollen, um Intimität und jugendliches Begehren.
Norwegische Sex-Saga
Der Regisseur nähert sich seinen Figuren und ihren Emotionen mit viel Ernsthaftigkeit und Feingefühl, lässt aber gerade in den exzellenten Dialogen auch Raum für Witz und findet mit Hilfe seines starken Ensembles zu einer Wahrhaftigkeit, die der Film mit seinen beiden im vergangenen Jahr in Berlin und Venedig gezeigten Vorgängern „Sex“ und „Kjaerlighet“ gemeinsam hat. Darauf, dass der deutsche Verleih die gesamte Trilogie dieser Osloer Geschichten ab Mitte April nacheinander in die Kinos bringen will, darf man sich jetzt schon freuen.
Die Entscheidung der Jury für dieses feine Werk, das seinen gesellschaftspolitischen Subtext erst auf den zweiten Blick offenbart, mag auch eine Reaktion darauf sein, dass die Politik in diesem Jahr wie ein schwerer Schatten über der Berlinale zu liegen schien. Der neuen Intendantin Tricia Tuttler kann man insgesamt einen erfolgreichen Einstand attestieren, von Filmauswahl bis Promi-Dichte. Doch ihrer Aufbruchstimmung stand die Zeitenlage oft im Weg.
Nach dem Eklat rund um Antisemitismus-Vorwürfe im Rahmen der letztjährigen Preisverleihung war die Anspannung groß, der Krieg in Gaza und Israel als Thema rund um den Potsdamer Platz dauerpräsent, von einer Mahnwache für die israelische Geisel David Cunio zur Festivaleröffnung bis hin zu den Ermittlungen des Staatsschutzes gegen den Hongkonger Regisseur Jun Li, der einen Text seines Schauspielers Erfan Shekarriz verlesen hatte, in dem von einem Völkermord gegen die Palästinenser die Rede war und als antisemitisch eingestufte Formulierungen Verwendung fanden.
Dann auch noch das Attentat am Holocaust-Mahnmal
Täglich neue Schlagzeilen über Donald Trumps Agieren im russisch-ukrainischen Krieg, der allgegenwärtige Bundestagswahlkampf oder Vorfälle wie das Messerattentat am Holocaust-Mahnmal gleich um die Ecke des Festivalzentrums trugen ein Übriges zum Eindruck bei, dass es auf diesem Festival kein Entkommen vor dem aktuellen Weltgeschehen gab.
Ob auch deswegen Filme wie der ukrainische Dokumentarfilm „Timestamp“ oder Ameer Fakher Eldins „Yunan“ über einen syrischen Geflüchteten in Deutschland am Ende bei der Bärenverleihung leer ausgingen? Gut möglich, denn allgemein wurden eher Filme prämiert, die sich auf das Persönliche konzentrierten.
Die alte Dame will nicht in die Alten-Kolonie
Der Große Preis der Jury ging an den hervorragenden brasilianischen Beitrag „O último azul“ von Gabriel Mascaro, in dem sich eine 77-Jährige in der nahen Zukunft ihrer Umsiedlung in eine Alterskolonie widersetzt und auf einer Reise durch das Amazonasgebiet ihr Glück sucht, derweil Iván Funds „El mensaje“ den Preis der Jury erhielt, ein schwarz-weißes Roadmovie über ein mit Tieren kommunizierendes Mädchen und seine Pflegeeltern in Argentinien.
Während die australische Hollywood-Schauspielerin Rose Byrne als überforderte Mutter in „If I Had Legs I’d Kick You“ so erwartet wie verdient den Silbernen Bären für die Beste Hauptrolle gewann und ihr irischer Kollege Andrew Scott dank seines Auftritts als Musical-Legende Richard Rodgers in „Blue Moon“ von Richard Linklater etwas überraschend den für die Beste Nebenrolle, ist es allerdings auch nicht so, dass politisches Kino zum Ende dieser Berlinale komplett ignoriert wurde.
Dokumentarfilm über eine Hamas-Geisel
„Living the Land“, für den Huo Meng den Regie-Bären erhielt, erzählt in seinem still beobachtenden Ansatz und dem Fokus auf bäuerliche Familien eben doch auch viel über einschneidende Veränderungen im China der zurückliegenden 30 Jahre. Radu Judes „Kontinental ’25“, ausgezeichnet für das Drehbuch, ist eine gallige Geschichte über eine Gerichtsvollzieherin im transsilvanischen Cluj, in der es auch um kapitalistische Gier im Postsozialismus und Nationalismus geht. Und die Dokumentarfilm-Jury kürte schließlich „Holding Liat“ zum Gewinner, in dem der US-amerikanische Regisseur Brandon Kramer die Familie der israelischen Friedensaktivistin Liat Beinin Atzili begleitet, die am 7. Oktober 2023 von der Hamas entführt und später freigelassen wurde.