Neu im Kino: „Das Flüstern der Felder“

Brutaler Bilderrausch

Der Titel des polnischen Animationsdramas „Das Flüstern der Felder“ verheißt Doktor-Schiwago-Kitsch, der Film selbst entpuppt sich aber als risikobereites Kino-Experiment

Moment des  Glücks: Jagna (Kamila Urzedowska),  Antek (Robert Gulaczyk)

© Verleih

Moment des Glücks: Jagna (Kamila Urzedowska), Antek (Robert Gulaczyk)

Von Kathrin Horster

Es ist noch gar nicht so lange her, da haben in Europa Männer das Sagen und Frauen werden wie Äcker oder Kühe verkauft. Ein lediges Mädchen wie Jagna (Kamila Urzedowska) darf sich Ende des 19. Jahrhunderts im ländlichen Polen nicht selbst den Ehemann aussuchen. Ihre verarmte Mutter Jagustynka (Dorota Stalinska) muss sie an den reichen und erheblich älteren Witwer Boryna (Miroslaw Baka) verschachern, obwohl Jagna eigentlich in dessen verheirateten Sohn Antek (Robert Gulaczyk) verliebt ist. Dass diese Konstellation gewaltige Probleme mit sich bringen wird, kann man sich denken.

Der Plot stammt vom Nobelpreisträger Wladyslaw Reymont, der im Jahr 1923 im epischen, dafür sachlich betitelten Roman „Die Bauern“ das Leben der patriarchalen Landbevölkerung nachzeichnete. Das Filmemacherpaar Dorota Kobiela und Hugh Welchman hat das Epos unterm merkwürdig sentimentalen Verleihtitel „Das Flüstern der Felder“ auf eine zweistündige Filmhandlung eingedampft und die zuvor mit Schauspielern entwickelten Szenen im sogenannten Rotoskopie-Verfahren animiert.

Da geht es ans Eingemachte

Dabei werden Kamera-Aufnahmen von Hand Bild für Bild übermalt, in diesem Fall in naturalistischen Öltableaus. Dasselbe aufwendige Verfahren wendeten Kobiela und Welchman schon 2017 für ihr Drama „Loving Vincent“ über die letzten Tage im Leben von Vincent van Gogh an. Die Strategie, einen Realfilm mit künstlerischer Technik zu verfremden und ihn auf diese Weise ästhetisch zu überhöhen, hat einen gewissen Reiz. Sowohl „Loving Vincent“ als auch „Das Flüstern der Felder“ geraten jedoch aufgrund der puren Nachahmung einer bestimmten Stilistik in Gefahr, visuell in den Kitsch abzudriften. Zudem braucht es eine Weile, bis die gemalten Figuren als emotionale Charaktere Kontur bekommen. Nach einem behäbigen Einstieg geht es aber doch ans Eingemachte.

Bedrückend wirken die familiären Probleme, die Jagnas und Borynas ohnehin schon lieblose Zwangsehe belasten; toxisch wirkt die Wut von Borynas erwachsenen Kindern auf die gleichaltrige Stiefmutter, die nun ihrerseits Anspruch auf Borynas Güter erheben kann. Die bald vom Dorf entdeckte Affäre von Antek und Jagna führt zur grausamen Ausgrenzung Jagnas, während Antek sich, von Vorwürfen unbehelligt, sogar an der Ächtung seiner Geliebten beteiligt.

Kobiela und Welchman beschreiben diese soziale Brutalität als über Jahrhunderte gewachsene, archaische Tradition, die sowohl Frauen als auch Männer unterjocht, und an der letztlich beide zerbrechen, weil sie als Individuen nicht zählen. Ein moderner Blick, der sich auch auf aktuelle Unterdrückungssysteme in anderen Ländern anwenden lässt. In manchen Szenen erweist sich sogar die zugespitzte Künstlichkeit als Stärke, etwa, wenn sich Jagna und die Hochzeitsgesellschaft in Trance tanzen und sich die Bilder in den fliegenden Pinselstrichen aufzulösen scheinen. Da zeigt dieser sperrige, trotzdem schöne Film, was risikobereites Kino jenseits der Norm leisten kann.

Das Flüstern der Felder. Polen, Serbien, Litauen 2023. Regie: Dorota Kobiela, Hugh Welchman. Mit Kamila Urzedowska, Robert Gulaczyk. 115 Minuten. Ab 12 Jahren

Szene aus „Das Flüstern der Felder“

© Plaion Pictures

Szene aus „Das Flüstern der Felder“

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Szene aus „Das Flüstern der Felder“

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Szene aus „Das Flüstern der Felder“

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Szene aus „Das Flüstern der Felder“

Szene aus „Das Flüstern der Felder“

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Szene aus „Das Flüstern der Felder“

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Szene aus „Das Flüstern der Felder“

Szene aus „Das Flüstern der Felder“

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Szene aus „Das Flüstern der Felder“

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Szene aus „Das Flüstern der Felder“

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Szene aus „Das Flüstern der Felder“

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Szene aus „Das Flüstern der Felder“

Szene aus „Das Flüstern der Felder“

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Szene aus „Das Flüstern der Felder“

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Erstellt:
12. September 2024, 15:46 Uhr

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