Neu im Kino: „The Lost King“
Der König unterm Asphalt
Stephen Frears versteht sowohl die Gefühle kleiner Leute als auch die von Monarchen. Diese Interessen koppelt er in seiner Tragikomödie „The Lost King“ mit Sally Hawkins – und erntet Kritik von Historikern.
Von Kathrin Horster
Geschichte wird von Siegern geschrieben, das ist nichts Neues. Ob sie dann immer den Tatsachen entspricht, ist eine andere Frage. Sogar William Shakespeare, einer der besten Dramatiker aller Zeiten, ging hämischer Siegerpropaganda auf den Leim, als er seine Königstragödie „Richard III.“ verfasste. Der letzte König aus dem Haus Plantagenet unterlag 1485 im Kampf um die Macht seinem Rivalen Heinrich Tudor, der kurz darauf den englischen Thron bestieg. Richards Leichnam wurde geschändet, in einem Wirtshaus ausgestellt und anschließend hastig begraben. Danach kursierten Gerüchte, Richard sei abgrundtief böse gewesen, noch dazu hässlich und verwachsen. Die schlimmsten Gräuel wurden ihm nachgesagt, darunter der Mord an seinen zwei kleinen Neffen, was Shakespeare gut hundert Jahre später munter kolportierte.
Nur ein kleiner Club von Amateurhistorikern, die Ricardians, versuchte ab den 1920er Jahren den in Verruf gekommenen Herrscher zu rehabilitieren. Zu dieser Gruppe stieß Ende der 1990er Jahre die Britin Philippa Langley, die bis dahin im Marketing gearbeitet hatte und keine historischen Kenntnisse besaß. Ausgerechnet diese Freizeitwissenschaftlerin spürte 2012 die verschollenen Gebeine Richards unter einem Parkplatz in Leicester auf. Ein Coup, den die Universität von Leicester für sich reklamieren wollte – ein typischer Fall von Geschichtsneuschreibung, so stellt es zumindest der Filmemacher Stephen Frears in seiner Tragikomödie „The Lost King“ dar.
Tagträume und eine fixe Idee
Frears hat immer wieder Interesse an den Geschichten kleiner Leute gezeigt; mit dem queeren Sozialdrama „Mein wunderbarer Waschsalon“ gelang ihm mitten in der bleiernen Thatcher-Ära 1985 der Durchbruch. In „The Queen“ (2006) beschrieb er eine historische Phase aus ungewöhnlicher Perspektive. Der Film zeichnet die Krise Königin Elizabeths nach, in die sie 1997 nach dem Unfalltod von Lady Diana geriet, und verbindet die Historie mit dem Privaten. Diese beiden Interessen koppelt Frears nun in „The Lost King“ zu einer Erzählung mit überzeitlicher Bedeutung. Sally Hawkins, bekannt geworden als penetrant fröhliche Grundschullehrerin in Mike Leighs Komödie „Happy-Go-Lucky“ (2008), gibt Philippa Langley als von Job, Kollegen und Familie enttäuschte Mittvierzigerin, die durch die Auseinandersetzung mit historischen Lügen über König Richard III. nebenbei auch die Verlogenheit mancher eigener Zeitgenossen aufdeckt.
Philippas Alltag beschreibt Frears als Abfolge zermürbender Kränkungen: Philippas Boss zieht ihr bei einer Beförderung eine wesentlich jüngere, unerfahrene Kollegin vor, und obwohl ihr Ex-Mann John (Steve Coogan) ständig in Philippas Haushalt herumhängt, trifft er sich mit einer anderen Frau, während die Teenager-Söhne mit ihrer Abnabelung beschäftigt sind. Ausgerechnet durch einen von der Schule verordneten Theaterbesuch mit ihrem Sohn kommt Philippa der faszinierenden Geschichte Richard Plantagenets auf die Spur: Nachdem der ihr in Tagträumen und in Gestalt des Bühnenschauspielers (Harry Loyd) begegnet, entwickelt sie die fixe Idee, den verschollenen Leichnam aufzufinden, um dem von Shakespeare zu Unrecht als Schurken gezeichneten Regenten zur letzten Ehre zu verhelfen. Dafür muss sie renommierte Wissenschaftler und Geldgeber von eigenen Nachforschungen überzeugen, die Richards mögliches Grab auf dem Gelände eines Sozialamtes in Leicester verorten.
Gute Unterhaltung!
Diese Überzeugungsarbeit schildert Stephen Frears als zähen Kampf gegen Windmühlen, auch, weil Philippa aufgrund ihres chronischen Fatigue-Syndroms auf viele Menschen neurotisch und wehleidig wirkt und deshalb nicht ernst genommen wird. Frears’ empathische Würdigung der Bemühungen Philippa Langleys um einen wichtigen Teil britischer Geschichtsschreibung ist allerdings nicht überall auf Gegenliebe gestoßen. Die von Frears’ Drehbuchautor Steve Coogan teils als toxisch dargestellten Historiker und Archäologen wehren sich gegen Langleys geäußerte Vorwürfe, man habe sie im Zuge der Ausgrabungsarbeiten herabgesetzt und ausgegrenzt. „Wenn man schon echte Menschen porträtiert, sollte man sie wenigstens miteinbeziehen“, zitiert der britische „Guardian“ etwa Richard Taylor, den ehemaligen stellvertretenden Kanzler der Uni Leicester. Frears und Coogan lassen kaum ein gutes Haar an den Wissenschaftlern, während Philippa Langley im Film als Heldin der Herzen vom akademischen Schlachtfeld zieht. Als Mittel zur Wahrheitsfindung ist „The Lost King“ also mit Vorsicht zu genießen, als gute Unterhaltung taugt der Film auf jeden Fall.
The Lost King. UK 2022. Regie: Stephen Frears. Mit: Sally Hawkins, Steve Coogan, Harry Loyd, James Fleet. 108 Minuten. Ab 6 Jahren.