Chefin Tricia Tuttle über Herausforderungen und Neuerungen beim Festival.
„Die Berlinale muss Empathie zeigen!“
Im vergangenen Jahr endete die Berlinale-Gala im Eklat – samt Antisemitismus-Vorwürfen. Diesmal soll alles anders werden, erklärt die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle.
![„Die Berlinale muss Empathie zeigen!“ Berlinale-Chefin Tricia Tuttle](/bilder/berlinale-chefin-tricia-tuttle-872712.jpg)
© dpa/Sebastian Gollnow
Berlinale-Chefin Tricia Tuttle
Von Patrick Heidmann
Tricia Tuttle leitet zum ersten Mal die Berlinale. Sie erzählt von den Herausforderungen und Neuerungen beim Festival.
Ms. Tuttle, verlief die Arbeit so, wie Sie sich das bei Antritt des neuen Jobs ausgemalt hatten?
Ich weiß gar nicht genau, was ich mir eigentlich ausgemalt hatte, denn der ganze Bewerbungsprozess im Herbst 2023 ging unglaublich schnell. Nachdem ich die Leitung des London Film Festivals abgegeben hatte, war ich an der National Film und Television, wo ich ewig hätte bleiben können, so viel Spaß machte mir die Arbeit. Doch dann kam die Anfrage, ob ich mich nicht um den Berlinale-Posten bewerben wolle, und dieser großartigen Chance konnte ich einfach nicht widerstehen. Ich hatte ein recht gutes Bild davon, welche Herausforderungen damit einhergehen, die Berlinale zu leiten. Aber auch welche Freude!
Nämlich?
Ich wusste, dass die finanzielle Lage des Festivals – wie anderenorts ja auch – nicht einfach ist. Und dass die Berlinale komplexer ist als andere große A-Festivals, weil das Festival mehrere Aspekte gleichzeitig hat. Es ist ein Festival für die internationale Branche, mit einem großen Filmmarkt, als eben auch eines der größten Publikumsfestivals der Welt. Das macht es so großartig. Was ich nicht erwarten konnte, war der Einschnitt, den der Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 bedeutete. Gerade auch in Deutschland. Die Debatte rund um die Berlinale-Preisverleihung im vergangenen Jahr haben wir in vielen Gesprächen reflektiert.
Etliche Dankesreden bei besagter Preisverleihung wurden als mindestens einseitig propalästinensisch, wenn nicht antisemitisch kritisiert. Gab es Forderungen seitens der deutschen Politik, wie ähnliches künftig zu verhindern ist?
Meinungsfreiheit ist uns sehr wichtig, aber wir müssen gleichzeitig daran erinnern, dass solche Themen sehr komplex zu diskutieren sind. Wir haben daran gearbeitet, wie wir unsere Moderationen so gestalten können, dass ein respektvoller Dialog besser gelingt und verschiedene Perspektiven einfließen. Und dass unsere Empathie allen gilt. Es gibt eben nicht die eine Maßnahme, mit der man eine Situation wie im vergangenen Jahr verhindern kann, sondern man muss individuell in dem jeweiligen Moment handeln. Sicher ist: Meinungsfreiheit muss gewährleistet werden. Wir setzen auf Dialog und Ausgewogenheit, wovon es im vergangenen Jahr auf der Bühne zu wenig gab. Es ist bedauerlich, dass da neben den berechtigten Solidaritätsbekundungen mit der palästinensischen Bevölkerung nicht auch Empathie mit David Cunio gezeigt wurde, der eine der israelischen Geiseln ist und ja auch ein Filmschaffender aus dem Berlinale-Kontext.
Es gibt propalästinensische Kunst- und Kulturschaffende, die Deutschlands Haltung in dieser Angelegenheit mehr als kritisch betrachten. Stießen Sie bei der Programmgestaltung auf Regisseure, die die Berlinale boykottieren?
Ich habe viele Gespräche mit Regisseurinnen und Regisseuren geführt, die sich Sorgen machten, ob sie beim Festival öffentlich ihre Meinung sagen können. Aber wir wissen natürlich, dass es auch weitreichendere Boykottaufrufe im Netz gibt. Ich möchte nicht gering schätzen, dass es einen großen Druck für Filmschaffende bedeuten kann, wenn – nicht nur, aber eben gerade bei der traditionell sehr politischen Berlinale – die Weltlage das Kino zu überschatten droht. Mitunter scheint dabei die Erwartung im Raum zu stehen, dass das Zeigen einer politischen Haltung wichtiger ist als der Inhalt der Filme.
Welche Änderungen gibt es?
Ich habe immer wieder gehört, die Berlinale sei ein wenig unübersichtlich, und tatsächlich habe auch ich es in der Vergangenheit manchmal als schwierig empfunden, den Überblick zwischen all den verschiedenen Sektionen zu behalten. Deswegen haben wir uns nun bemüht, deren Profile zu schärfen und für ein wenig mehr Klarheit in der jeweiligen Ausrichtung zu sorgen. Dazu gehört auch die Einführung der neuen Reihe Perspectives, in der ausschließlich internationale Spielfilmdebüts gezeigt werden. Den Preis für den besten Erstlingsfilm gibt es zwar bereits seit 2006, doch bislang waren die Kandidaten dafür über alle Sektionen verteilt. Mit der neuen Reihe wollen wir für mehr Sichtbarkeit für diese Filme sorgen. Hier, wie bei allen Entscheidungen, steht stets die Frage ganz oben, wie wir den Regisseurinnen und Regisseuren, die bei uns ihre Arbeiten zeigen, die bestmögliche Plattform bieten können.
Im Wettbewerb um den Goldenen Bären laufen mit „Was Marielle weiß“ von Frédéric Hambalek und „Yunan“ von Ameer Fakher Eldin lediglich zwei deutsche Filme. Sind das bewusst weniger als in vielen anderen Jahren?
Definitiv nicht. Natürlich ist es für die Berlinale wichtig, deutsche Filme prominent in Szene zu setzen. Aber für die Auswahl eines Wettbewerbs spielen ja unterschiedlichste Faktoren eine Rolle. Da geht es um eine Vielfalt repräsentierter Länder, um Geschlechter-Balance und vor allem möglichst verschiedene Ausdrucksformen und unterschiedliche künstlerische Handschriften. Die beiden Filme haben uns für den Wettbewerb begeistert, aber insgesamt zeigen wir über alle Sektionen verteilt nicht weniger deutsche Produktionen als sonst. Und nicht zuletzt starten wir das Festival mit Tom Tykwers neuem Film „Das Licht“.
Der ideale Eröffnungsfilm?
Wir hatten das Glück, dass Tom uns den Film bereits im vergangenen Sommer zeigte, und wir wussten sofort, dass wir „Das Licht“ als Eröffnungsfilm haben wollten. Ein deutscher Film von Tom Tykwer, der von Berlin erzählt, von einer deutschen Familie ebenso wie von migrantischen Erfahrungen. Der freudvoll ist, aber auch nicht die Augen verschließt vor komplexen Alltagsrealitäten. Und der obendrein mit Musical-Elementen daherkommt. Er hat einfach von allem etwas. Dass wir den Film und übrigens auch unsere Eröffnungsgala nicht nur im Berlinale Palast, sondern per Live-Übertragung auch in bundesweit sieben anderen Städten zeigen können, ist mir eine besondere Freude.
Ein Coup ist auch der Jury-Präsident. Warum fiel Ihre Wahl auf den Oscar-nominierten US-Regisseur Todd Haynes?
Er ist ein großer Filmemacher, enorm eloquent, klug, aufmerksam. Aber er hat auch einen besonderen Bezug zur Berlinale, schließlich lief sein erster Spielfilm „Poison“ hier und gewann 1991 den Teddy Award. Er bedeutet mir auch persönlich sehr viel und ist einer meiner Lieblings-Regisseure. Ich schrieb meine Masterarbeit über „Poison“. Für meinen ersten Berlinale-Jahrgang jemanden als Jury-Präsidenten einzuladen, zu dessen Arbeit ich selbst einen so starken Bezug habe, war mir ein echtes Anliegen.