Neu im Kino: „Xoftex“
Einblicke in die Vorhölle
Würden Menschen härtere Asylgesetze fordern, wenn sie einmal das Innere eines Geflüchteten-Camps gesehen hätten? Der Regisseur Noaz Deshe macht diese Erfahrung im Drama „Xoftex“ möglich.

© Port au Prince Pictures
Der palästinensisch-syrische Schauspieler und Rapper Abdulrahman Diab (19) in seinem Debütfilm „Xoftex“. Die Rolle des Nasser übernahm er mit 17 Jahren, als er noch mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in einem Berliner Flüchtlingslager lebte.
Von Kathrin Horster
Wer wissen will, wie die Hölle aussieht, muss weder die Bibel noch Dantes „Göttliche Komödie“ bemühen: Noaz Deshes surrealistisches Drama „Xoftex“ vermittelt eindrucksvolle Innenansichten eines griechischen Geflüchtetenlagers, wo Menschen monatelang im Ungewissen schmoren, ob sie Einzug halten dürfen ins vermeintliche Paradies oder zurück müssen in die Vorhölle, aus der sie oft unter Einsatz ihres Lebens geflohen sind. Das hoffnungslos überfüllte Lager Moria wurde 2020 zum Inbegriff eines solchen real existierenden Pandämoniums, in Brand gesetzt von den verzweifelten Insassen.
20 000 Menschen lebten zeitweilig in Moria – statt der 2800, für die das Camp ursprünglich ausgelegt war.
Fiktives Brüderpaar nach realem Vorbild
Der in Berlin lebende Rumäne Noaz Deshe hat im Rahmen eines Theaterprojektes mit Geflüchteten im griechischen Camp Softex gearbeitet und schildert auf Basis dieser Erfahrungen den Alltag des fiktiven Brüderpaars Nasser (Abdulrahman Diab) und Yasin (Osama Hafiry), das seit Jahren dort fest sitzt. Yasin und Nasser haben noch Glück; zu zweit teilen sie sich einen weitgehend unmöblierten Container. Geschlafen wird auf zwei Matratzen auf dem Boden, es gibt einen Klappstuhl und einen Gaskocher. Andere im Lager besitzen weniger; eine Plane als Zelt und ein paar Lumpen. Obwohl die Situation alles andere als zum Lachen ist, versuchen sich einige mit Scherzen die Zeit zu vertreiben.
Deshe zeigt zu Beginn ein ironisches Spiel am Lagerfeuer, wo sich die Leute gegenseitig wie bei einer Asylanhörung befragen. Einer will unbedingt in die Schweiz, er habe dafür sein Leben lang die Käseherstellung und das Uhrmacherhandwerk studiert, Nasser spielt den strikten Beamten, der dem Mann seinen Traum verwehrt. Nasser selbst träumt von Schweden und dreht zwischen seinen Anhörungen kleine Film-Sketche.
Von Normalität ist abseits solch heiterer Momente trotzdem keine Spur in „Xoftex“. Deshe beschreibt, wie die Leute nach und nach durchdrehen. Ein Mann randaliert nachts im Lager, eine rätselhafte Schlaf-Krankheit befällt die Kinder, die wie an Land angeschwemmte Fische in Rettungswesten auf ihren Matratzen liegen und im Traum nach Luft schnappen. Während Yasin wütend wird, weil sein kleiner Bruder mit seiner Rebellion gegen die Verhältnisse im Camp den Asylantrag gefährden könnte, driftet Nasser immer tiefer in eine Fantasiewelt, in der sich Tages-Ereignisse mit Erinnerungen und Zukunftsvisionen vermischen.
Grausame und poetische Bilder
Einen linearen Plot bietet Noaz Deshe nicht, in Schlaglichtern beleuchtet er vor allem des Innenleben Nassers und vermittelt so die massive psychische Desorientierung, die sich bei vielen Asylsuchenden nach langer Wartezeit einstellt. Das Erleben dieses Lagerkollers setzt Deshe in grausamen, aber auch poetischen Horror-Bildern um. In einem als Betraum eingerichteten Zelt wächst zwischen den Teppichen ein dürrer Baum, den Nasser irgendwann mitsamt Wurzelballen mit sich herum trägt und schließlich in einem nach vorne geöffneten Container pflanzt, der auf seiner dünnen Betonplatte frei durchs All schwebt. Einmal läuft Nasser durch ein Kornfeld, zwischen den Ähren strecken sich ihm Arme entgegen, ein entsetzliches Bild für all die Toten, die er im Mittelmeer hat ertrinken sehen und nicht retten konnte.
So intensiv Deshes Bildsprache und so realistisch die Darstellung des tatsächlichen Elends in den Lagern ist; der Film verweigert aufgrund des rudimentären Plots und der nur angedeuteten individuellen Charaktere die Möglichkeit, sich mit den Figuren zu identifizieren. Man stolpert zwar an der Seite von Nasser durch diesen Albtraum, erlebt seinen Schmerz, wenn er alte Nachrichten seiner Eltern auf dem Handy abhört und sein Bruder nüchtern fordert, er solle das lassen, sie seien verloren. Trotzdem bleiben die Brüder als Charaktere schemenhaft.
Deshe geht es offenkundig mehr darum, das Gefühl ihres Verlorenseins zu übertragen als darum, beim Publikum Empathie für einzelne, fiktive Figuren zu erregen. So wichtig dieses Mitgefühl ist, es kann dazu führen, dass sich privilegierte Staatsbürger über die entwurzelten Lagerbewohner erheben können in ihrem Mitleid; dass sie mit den Tränen um die Filmhelden auch das eigene Entsetzen über solche Zustände im Kinosaal zurücklassen. Wer aber selbst das Grauen dieser Lager gesehen hat, so vielleicht Noaz Deshes schmale Hoffnung, kommt auch nach dem Kinobesuch ins Nachdenken, ob eine immer härtere Asylpolitik wirklich geeignet ist, dieses Elend zu lösen. Die Frage ist nur, ob privilegierte europäische Staatsbürger freiwillig überhaupt einen Blick in diese Hölle wagen wollen.
Xoftex. Frankreich, Deutschland 2024. Regie: Noaz Deshe. Mit Abdulrahman Diab, Osama Hafiry. 99 Minuten. Ab 12 Jahren.
Reale Bezüge
OrtWie das niedergebrannte Lager Moria auf der Insel Lesbos gilt auch das Camp Softex in einem Industriegebiet von Thessaloniki als berüchtigt wegen seiner extremen Bedingungen. Der Name stammt von einem Toilettenpapier-Hersteller, dem das Lagerareal früher gehörte, bis ein Brand die Fabrik zerstörte.
RegieZwischen 2015 und 2018 arbeitete Noaz Deshe in griechischen Lagern und bei der Seenotrettung vor der Küste Libyens. Dort traf er die Brüder Ali und Mohammad Abbas, die einen Zombiefilm drehen wollten. Sie dienten als Inspiration für das Brüderpaar im Film. Deshe beschreibt das reale Lager Softex als unwirtlichen, beängstigenden Ort „wie Solaris“ in Anspielung auf einen Science-Fiction-Roman von Stanislaw Lem. Aktuell arbeitet Deshe mit dem Anti-Kreml-Aktivisten Pyotr Verzilov an einem Projekt.