Ziemlich verspult

Kassetten und die vergebliche Hoffnung auf einen Trend

Einen Versuch war es wert, zum 60. Geburtstag der Musikkassette einen Trend auszurufen. Doch sie bleibt ein nostalgisches Medium für die Nische, das seine Zeit im Rampenlicht aber maximal ausgeschöpft hat. Revolution inklusive.

Bandsalat: Nostalgie oder Trauma?

© /Volodymyr Hryshchenko

Bandsalat: Nostalgie oder Trauma?

Von Michael Setzer

Hier ein Klassiker, der seit Jahren in sozialen Netzwerken als Bilderwitz verteilt wird. Überschrift: „Wenn du das hier noch kennst, dann bist du alt!“. Und darunter das Foto einer Musikkassette und eines Bleistifts. Zack. Retrogänsehaut. Romantik pur. Früher war alles besser.

Aber: Gar nichts war besser. Beispielsweise wenn die Kassette eben aus unerfindlichen Gründen Bandsalat produzierte und das Tonband mithilfe eines Stiftes wieder mühselig aufgerollt werden musste. Immer in der Hoffnung, dass es sich nicht verdreht. Immer in der Hoffnung, dass die Musik nach diesem Erste-Hilfe-Eingriff noch gut klingt und nicht knackt oder gar leiert. So geht das seit der Markteinführung 1963.

Die Romantik des Mixtapes

Entsprechend betagten Nutzern massiert freilich viel mehr die Romantik des Mixtapes die Gefühle: Eine 90-Minuten-Kassette maßgeschneidert für die Angebetete, den Angebeteten. Vollgepackt mit Lieblingsliedern in einer ausgeklügelten Dramaturgie, die an Raketenwissenschaft grenzt – und dazu noch eine selbst angefertigte Hülle. Der Liebesbrief von echten Profis.

Das funktionierte auch zum bloßen Beeindrucken von Freunden. Wer kennt die besten Bands und Lieder? Und manche haben im Kindesalter besser Rechnen gelernt, weil sie die Lieder exakt abmessen mussten, damit das Band nicht mitten im Lied zu Ende ist.

Ein Teil der Romantik sollte in den vergangenen Jahren besonders bei jugendlichen Musikfans wieder befeuert werden. Spartige Kleinlabels, vornehmlich für Indie-Pop, Punk, Rap oder Heavy Metal, veröffentlichten ihre Musik plötzlich wieder in Kleinauflagen als handliche Audiokassetten. Liebhaberstücke, ein bisschen Hype, ein bisschen hip – und preisgünstiger als die Vinylvarianten.

„Das Tape soll ja die neue Platte sein“

Die auf Marktoptimierung bedachten Teile der Musikindustrie hofften alsbald auf einen neuen Trend, ähnlich wie bei Vinyl, mit einem obsolet geglaubten Tonträger wieder die Umsätze anzukurbeln. Ob Justin Bieber, Beyoncé, Billie Eilish, Taylor Swift oder Harry Styles – eine Kassettenauflage gehört heute zum guten Ton. Allerdings: Er ist leise.

„Wir haben ein paar Hundert Tapes in unserem Sortiment“, sagt Tom Haller vom Plattengeschäft und -versandhandel Flight 13 in Freiburg. Er lacht. „Das Tape soll ja die neue Platte sein.“ In den Verkäufen und im Bestellverhalten der Kundschaft spiegle sich dies allerdings nicht so sehr wider. „Ich persönlich mag Tapes sehr gerne und höre sie nach wie vor regelmäßig“, erzählt Haller. „Da sind ja oft auch lustige Erinnerungen mit verknüpft. Und es ist eben analog, genau wie die Schallplatte. Das hat schon was!“

Nostalgisch schaut die Industrie auf das Jahr 1991. Damals erlebte die Musikcassette (MC) laut Bundesverband Musikindustrie (BVMI) ihren Höhepunkt. Die Umsätze in Deutschland beliefen sich auf 524,5 Millionen Euro. Heute scheint das Geschäft rein umsatztechnisch vernachlässigbar. Der BVMI meldet für 2022 gar nichts beziehungsweise werden MCs nicht gesondert aufgeführt.

Die Verkaufszahlen liegen wohl irgendwo zwischen 100 000 und 195 000. Es sieht so aus, als würde die Kassette kein ausschweifendes Revival erleben, sondern eher zum haptischen Nostalgie- und Liebhaberstück taugen.

Zu nischig

Für einen ausgewachsenen Trend sei das dann doch viel zu nischig, glaubt auch Tom Haller. „Außerdem gibt es kaum Hersteller, die noch Tapedecks produzieren. Im Gegensatz zu Vinyl, wo die Zuwachsraten enorm sind und ja fast eine ganze Industrie neu entstanden ist. Nicht zu vergessen, dass die Platte einfach optisch und haptisch viel mehr hermacht.“

Das Verdienst der Kassette sollte allerdings nicht außer Acht gelassen werden. Denn mit der MC erlebt die Popkultur in den 80er Jahren ihre erste große technische Revolution. Musik wird mobil via Walkman, Gettoblaster oder Autoradio. Musik wird individuell – 20 gute Lieder auf eine MC gepackt, fertig ist die neue Lieblingsplatte. Und: Musik findet so eine ungeahnte Verbreitung.

Angst vor der Freiheit

Der Musikindustrie bereitet diese neue Freiheit damals eine Heidenangst. Jugendliche kaufen plötzlich eine Schallplatte und kopieren sie ihren besten Freunden auf kostengünstig erhältliche Leerkassetten. Filesharing, aber analog. Die British Phonographic Industry lanciert 1980 eine Kampagne: „Home Taping Is Killing Music“.

Eine stilisierte Piratenflagge mit einer Kassette statt Totenschädel soll die private Piraterie noch unterstreichen. Der Warnhinweis wird weltweit auf Schallplattencovern angebracht. Quintessenz: Wer Vinyl-LPs für andere auf Kassette überspielt, tötet die Musik. In Wahrheit waren natürlich die Umsätze der Industrie gemeint. Und zumindest was die erste Einschätzung betrifft: Das Gegenteil war der Fall. Musik florierte plötzlich in gefühlter Anarchie.

Schlecht für die Industrie, gut für die Kunst

Die noch größere Freiheit der MC liegt aber in der Kunst: Künstler und Künstlerinnen waren nicht mehr auf die Musikindustrie angewiesen, um auf sich aufmerksam zu machen. Es genügte, eine Studioaufnahme anzufertigen und MCs waren billig herzustellen und per Post problemlos zu vertreiben. Sei es, um einen Plattenvertrag zu ergattern oder eben, um die Karriere eigenverantwortlich selbst in die Hand zu nehmen.

In den 80er Jahren entwickelt sich daraus ein weltweites Netz aus sogenannten Tapetradern, die Influencer ihrer Zeit. Sie tauschen untereinander MCs aus – Demokassetten junger Künstler oder regional erschienene Platten ziehen plötzlich via individuell bespielter Tapes weltweite Kreise.

Tapetrading machte Stars

Die Idee: Lieblingsmusik verbreiten. Heutige Giganten wie die Heavy-Metal-Band Metallica waren in dieser Szene bereits Stars, noch bevor überhaupt eine Plattenfirma von ihnen Notiz nahm. Das Original-Tape ihrer Demoaufnahme „No Life Til Leather“ von 1982 wird für rund 600 Euro gehandelt – aber viel wichtiger: Es wurde Abertausende Mal dupliziert.

Ebenso nährt sich der große Grunge-, Alternative-Rock- und Rap-Boom der frühen 90er Jahre aus dem Tapetrading im Untergrund. Frühe Aufnahmen von Gruppen wie Nirvana schwappen 1988 via Tapetrading von Seattle in den USA in die ganze Welt. Als Nirvana 1991 weltbekannt werden, sind sie in den Bescheidwisser-Kreisen längst ein älterer Hut.

Ein bisschen Selbstermächtigung, ein bisschen Anarchie, ein bisschen Revolution. Alles möglich, dank der Kassette, die die Welt damals schon sanft darauf vorbereitet, was später mit MP3-Dateien, CD-Rohlingen und dem Internet möglich wird.

Zeit für den Ruhestand, alter Revoluzzer. Die MC wird auch ohne neuen Trend in Ehren gehalten werden. Da muss nichts mehr kommen.

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Erstellt:
21. Juni 2024, 15:44 Uhr

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