Neu im Kino: „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“
Major Tom in der Trabantenstadt
Das Sozialdrama „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ spielt in der Pariser Sozialsiedlung Cité Gagarine vor ihrem Abriss: Für den Teenager Youri ist der Wohnblock ein Ort, an dem Träume zuhause sind.
Von Kathrin Horster
Dreizehn Etagen, mit Betonstreben verbundene Backsteinwände übereinander getürmt, pro Fensterpaar ein Balkon. Das Ziegelrot wirkt trist, unten im Hof verschandelt krakeliges Graffiti die Wände. Bei ihrer Eröffnung 1963 galt die Sozialsiedlung Cité Gagarine im Südosten von Paris als Vorzeigeprojekt der kommunistischen Partei. Der Name „Gagarine“ geht auf den russischen Kosmonauten Juri Alexejewitsch Gagarin zurück, der höchstpersönlich zur Einweihung kam.
Youri verschanzt sich in der Gagarine – eine gefährliche Entscheidung
Die kuriose Vorgeschichte stellt das Regieduo Fanny Liatard und Jérémy Trouilh anhand eines alten Nachrichtenclips an den Beginn seines Sozialdramas „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“, das den Abriss der Siedlung 2019 in einer fiktiven Erzählung um den verwaisten Gagarine-Bewohner Youri (Alséni Bathily) verarbeitet. Dessen Vater ist gestorben oder hat die Familie verlassen, die Mutter ist zu ihrem neuen Freund gezogen, ein Baby ist unterwegs. Einsam ist der von Raumfahrt und Technik begeisterte Teenager dennoch nicht, die Gemeinschaft in der Gagarine erlebt er als Ersatzfamilie mit der Nachbarin Fari (Farida Rahouadj), Freund Houssam (Jamil McCraven) und seinem Schwarm Diana (Lyna Khoudri). Als Bauinspektoren Mängel in den unsanierten Blöcken feststellen und daraufhin Evakuierung und Abriss beschließen, verschanzt sich Youri wie sein berühmter Namensvetter in einer selbst gebauten Kapsel im Inneren des riesigen Komplexes. Eine gefährliche Entscheidung, weil die Sprengung unmittelbar bevorsteht.
„Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ könnte nach Werken wie „Hass“ (1995) oder „Die Wütenden“ (2019) bloß ein weiteres grimmiges Sozialstück über – nicht nur – französische Dauerbrenner wie Rassismus, Gentrifizierung und Polizeigewalt sein. Doch Fanny Liatard und Jérémy Trouilh öffnen die Perspektive, indem sie mit den Mitteln des magischen Realismus fantastische Traumelemente in die Erzählung schleusen, ohne sie damit vom realistischen Hintergrund zu lösen. Wie ein Kosmonaut trotzt Youri den lebensfeindlichen Bedingungen im Asbest verseuchten, in Auflösung begriffenen Gagarine und zieht wie Mark Watney in Ridley Scotts Science-Fiction-Abenteuer „Der Marsianer“ (2015) noch dort Zucchini, wo schon längst kein normales Leben mehr möglich ist.
Die als Schandfleck und sozialer Brennpunkt geächtete Gagarine erlebt Youri als schützendes Raumschiff vor einer sozialfeindlichen Außenwelt, über Jahrzehnte Heimat für diejenigen, die sonst nirgends in der überteuerten Metropole andocken können. Die Auswirkungen der Lebensfeindlichkeit zeigen Fanny Liatard und Jérémy Trouilh am Beispiel von Diana, deren Eltern als Roma von der Polizei schikaniert werden. Doch der Film ist weniger eine Anklage als eine Frage: Wem gehört der Welt-Raum, und wie kann man ihn gestalten, selbst, wenn Geld und Mittel knapp sind?
Eine Frage, die vielleicht auch manche deutsche Großstadt-Kosmonauten in ihren Kapseln umtreibt.
Gagarin – Einmal schwerelos und zurück. Frankreich 2020. Regie: Fanny Liatard, Jérémy Trouilh. Mit Alséni Bathily, Lyna Khoudri. 98 Minuten. Ab 12 Jahren.