ARD-Doku „Die Vice Story“
Sex, Drogen, Hedonismus
Bizarre Storys um Schönes und Hässliches: Eine ARD-Doku blickt ins Archiv des legendären „Vice“-Magazins.
Von Ina Schäfer
Punkig und hedonistisch: Mit seiner „Scheiß drauf“-Mentalität hat das „Vice“-Magazin Journalismus auf seine ganz eigene Art interpretiert. „Wir hatten zwar einen journalistischen Auftrag, aber vor allem wollten wir Spaß haben“, sagt Thilo Mischke als er sich an seine Zeit als Reporter bei „Vice“ erinnert.
Der Journalist ist einer von vielen ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in der ARD-Doku „Die Vice Story: Gonzo, Gosse, Größenwahn“ zu Wort kommen. In drei Folgen, die jeweils dreißig Minuten dauern, wird dem Hype um das Popkultur- und Medienphänomen auf den Grund gegangen – von den Anfängen als kostenloses Printmagazin in den USA bis hin zum globalen Medienkonzern mit Agentur, Newskanal und Büros auf der ganzen Welt. Es ist nicht nur die Geschichte eines großen Aufstiegs, eines Konzerns, der in Milliardenhöhe bewertet wurde, sondern auch die eines enormen Falls dank dem Größenwahn einiger Manager. Im vergangenen Jahr meldete „Vice“ Insolvenz an.
Die Doku zeigt das Magazin als Paradebeispiel für sogenannten Gonzo-Journalismus: Nicht Objektivität entscheidet, sondern das persönliche Erleben und Empfinden. Schlemmen in Gaza, auf den Autoladeflächen von IS-Kämpfern, bei Porno-Drehs in Brandenburg – die Storys waren abseitig, provokativ, und nicht selten moralisch und journalistisch fragwürdig.
Wichtig bei „Vice“, so zeigt es die Doku, waren aber nicht nur die Geschichten, sondern auch die Partys und der Lifestyle, der damit einherging. „,Vice’ war nicht nur ein Magazin, sondern eine Szene“, so Sängerin Peaches, die eine Art Galionsfigur des deutschen Ablegers des Magazins war. „Es wurde nichts davon ausgelassen, was in Berlin abging – Sex und Drogen, jeder konnte machen, was er wollte.“
Die Doku springt an sämtliche Orte rund um den Globus, zu den Partys in London, den Büros in New York, zu Kriegsreportern in der Ostukraine, zu Fernsehauftritten des Chefs Shane Smith, bei denen dieser schamlos seinen Erfolg zur Schau stellte. Die ehemaligen Reporterinnen und Reporter, PR-Manager und Fotografen erinnern sich an die Zeit in den Redaktionen, an riskante Recherchereisen und den Spirit des Magazins. „Der Stil von ,Vice’ war befreiend, es gab keine Leitplanken, und niemand sagte zu irgendetwas Nein“, so Simon Ostrovsky, der für „Vice“ in der Ostukraine war.
Einen etwas fahlen Beigeschmack hinterlassen allerdings die Beiträge des „Vice“-Mitgründers Gavin McInnes. Gekleidet in einem Deutschland-Trikot erzählt er von den Anfängen und wie er schließlich aus dem Unternehmen gedrängt wurde. Danach war er Mitgründer der rechtsradikalen Gruppierung „Proud Boys“, die im 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington gestürmt hat. „Aus Spaß, ein albernes Spiel“, wie er sagt. Auch andere seiner fragwürdigen Aussagen zu Feminismus und „wokem Scheiß“ bleiben so stehen, da die Form der Doku eine Reflexion nicht zulässt. Die Filmer lassen ihre Protagonisten reden, ohne zu kommentieren.
Eine Zeitreise für Millennials
Die dritte Folge mit dem Titel „Alleingänge und Absturz“ zeigt schließlich, wie der Konzern immer größer und letztlich an die Wand gefahren wurde. Während Boss Shane Smith zum Milliardär wird, schuften die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für wenig Geld. 2018 deckt die „New York Times“ Fälle sexueller Belästigung bei „Vice“ auf. Investoren fordern ihre Kredite zurück, und Shane Smith schlägt ein lukratives Angebot aus – der Anfang vom Ende.
Die drei Folgen zeigen die Geschichte einer Marke, deren Zeit irgendwann vorbei war. „,Vice’ hat in den 2000er Jahren peak Hipsterculture abgebildet. Heute sind Hipster nicht mehr cool. Und auch das Magazin hat es nicht geschafft, wieder jung zu werden“, sagt die ehemalige Reporterin Martina Kix. Unterlegt wird das alles mit dem Soundtrack der Zeit: Arctic Monkeys, Bloc Party, Green Day. Vor allem für Millennials dürfte die Doku wie schon die ARD-Dokus über die Band Echt und den Musiksender Viva, die ebenfalls in diesem Jahr erschienen sind, eine willkommene Zeitreise sein.
In der ARD-Mediathek
Doku„Die Vice Story: Gonzo, Gosse, Größenwahn“ ist abrufbar in der ARD-Mediathek