Zum Tod von Ruth Westheimer
Sex-Guru im prüden Amerika
Als würde sie erzählen, wie man einen Apfelstrudel backt: Masturbation, Orgasmus, Klitoris – es gab kein Wort, das ihr nicht problemlos mit starkem deutschen Akzent aus dem Mund geschossen kam. Die Sexualtherapeutin Ruth Westheimer ist im Alter von 96 Jahren in New York gestorben.
Von Eva-Maria Manz
Sie liebte Schildkröten. In Ihrem Apartment in New York soll Ruth Westheimer Schildkrötenfiguren gesammelt haben. Sie bewundere die Tiere dafür, den Kopf aus dem Panzer zu strecken, hatte die Sexualtherapeutin immer wieder gesagt. Das galt auch für sie selbst, deren Leben kaum aufregender hätte verlaufen können. Am vergangenen Wochenende ist die deutschstämmige amerikanische Popikone im Alter von 96 Jahren in New York gestorben.
Ejakulation, Orgasmus und Masturbation – dass diese Worte Anfang der 80er Jahre einfach so in einer Radiosendung gesagt wurden, war im prüden Amerika eigentlich eine Unvorstellbarkeit. Es gab kein Wort aus dem Bereich der Sexualität, das „Dr. Ruth“, der damals bereits älteren Dame mit der kratzigen Stimme, dem kessen Kichern und einem harten deutschen Akzent nicht problemlos aus dem Mund geschossen wäre. Ihre tägliche Radiosendung machte Westheimer berühmt, bis heute hat sie an die 40 Ratgeber veröffentlicht, war noch in den vergangenen Jahren in vielen Medien zu Gast.
Als würde sie den Leuten erzählen, wie man einen Apfelstrudel backt
Die Wirkmacht ihrer Figur konnte sich wohl auch deshalb entfalten, weil ihr Auftreten und Äußeres ihrem Gegenstand auf so komische Art entgegen standen. Das „Wall Street Journal“ beschrieb Westheimer als eine Mischung aus Henry Kissinger und einem Kanarienvogel. Die gerade mal 1,44 Meter große Frau mit lockengewickelter Omafrisur und knielangen Kleidern ließ alles, was sie sagte, nicht verrucht, sondern machbar klingen. Über Sex sprach sie, das schrieb das „New York Times Magazine“ einmal, als würde sie den Leuten erzählen, wie man einen Apfelstrudel backt.
Westheimer gab Tipps und beruhigte, sie rief dazu auf, das Licht beim Sex anzulassen. Im Bett, sagte sie, gebe es kein „normal“ oder „unnormal“. In einer Zeit, in der alle verzweifelt nach dem G-Punkt suchten, holte sie die Amerikaner mit ihren praktischen Einlassungen zurück auf den Boden der Tatsachen. Westheimers hemdsärmeliger Frohsinn war weniger Oberflächlichkeit als entschlossener Lebenswille. In ihrer Wohnung soll sie nicht nur Schildkröten, sondern auch Puppenhäuser gesammelt haben, wie die „Washington Post“ berichtete. Mit einer einzigen Puppe war sie als zehnjähriges jüdisches Mädchen auf einen Kindertransport in die Schweiz geschickt worden – und hatte die dann einem jüngeren Kind geschenkt: „Sie brauchte sie dringender.“
Mit Polyamorie kann sie nichts mehr anfangen
1928 wird Westheimer als Karola Ruth Siegel in Wiesenfeld in der Nähe von Frankfurt geboren. Ihr Vater stirbt in Auschwitz, ihre Mutter gilt als verschollen. Die kleine Ruth überlebt in der Schweiz, geht nach dem Krieg nach Palästina und wird von der Haganah zur Scharfschützin ausgebildet. Schwer verwundet lernt sie im neu gegründeten Staat Israel Kindergärtnerin, verlässt dann das Land, um in Paris Soziologie zu studieren. Die Ehe mit einem Franzosen zerbricht, und Ruth geht als alleinerziehende Mutter mit ihrer Tochter in die USA – wo sie in Abendkursen ihre akademische Laufbahn begründet und 1961 Manfred Westheimer heiratet, mit dem sie einen Sohn bekommt.
So „normal“ Westheimer sexuell vieles fand, mit der Polyamorie konnte sie nichts mehr anfangen. Westheimer, die zuletzt seit 20 Jahren Witwe war, sagte 2020 in einem „Washington Post“-Podcast: „Seien Sie einfach froh, dass Sie einen Mann haben.“