Ausstellung „Kippmomente“ in Ostfildern

Wenn die Geometrie ausrastet

In der Städtischen Galerie Ostfildern sorgt eine ausgeklügelte Rauminstallation des Kirchheimer Künstlerpaars ststs für Verwirrung.

Wirkt schräg und ist so gewollt: Das Raumkunstwerk basiert auf dem Spiel mit der Wahrnehmung.

© Juergen Bubeck/www.juergenbubeck.de

Wirkt schräg und ist so gewollt: Das Raumkunstwerk basiert auf dem Spiel mit der Wahrnehmung.

Von Georg Leisten

Schwerlastregale, das verrät bereits der Name, sind so konzipiert, dass sie einiges aushalten. In der Städtischen Galerie Ostfildern wird die Belastbarkeit der robusten Gestelle bis an die Grenzen des statisch Möglichen ausgereizt. Schief und schräg stehen sie da: zwölf metallische Regale, angeordnet in zwei Reihen zu je sechs, die sich in der Mitte schneiden und ein großes Kreuz bilden. „Kippmomente“ heißt die ausgeklügelte Rauminstallation des Künstlerpaars Stef Stagel und Steffen Schlichter, das in der Ausstellungsszene unter dem Namenskürzel ststs auftritt. Vergangenes Jahr machten sie mit einer konzeptuellen Recherche über den Albaufstieg der A8 von sich reden. Die Arbeit holte die nationalsozialistische Vergangenheit der Autobahn und ihrer teilweise gesprengten Brücke zurück ins Bewusstsein.

Das Künstlerpaar setzt zur Architektur passende Akzente

Wie viele Werke des in Kirchheim/Teck lebenden Duos sucht auch das aktuelle Projekt die Auseinandersetzung mit dem Ort. In diesem Fall mit Ostfilderns Stadthaus, unter dessen Dach sich die Galerie befindet. Seit seiner Fertigstellung vor über 20 Jahren gilt das Bürger- und Verwaltungszentrum im Scharnhauser Park mit seinen frechen Einschnitten und dem majestätisch auskragenden Vordach als baukünstlerischer Hingucker der Gemeinde. Charakteristisch ist die Architektur von Jürgen Mayer H. nicht zuletzt durch die geneigten Wände. Eben jene Abkehr von der Geometrie des rechten Winkels erweist sich auch für die kreative Intervention von ststs als Leitmotiv. Dabei erwecken die waghalsig zusammengesetzten Baumarktregale den Eindruck, im nächsten Augenblick in einer Art Kettenreaktion hintereinander zu Boden zu krachen. Zusätzlich sorgt eine blaue Wandzeichnung aus blauen Gitterbändern, die bald hierhin, bald dorthin laufen, für Verwirrung. Jetzt versteht man endlich einmal, woher der Begriff ‚ausrasten’ kommt. Von Fall- und Fliehkräften, die aus der Ordnung eines festgefügten Rasters ausbrechen.

Kippmoment als Dauerzustand

In Ostfildern jedenfalls entsteht ein gleichsam psychedelischer Effekt, denn die Betrachtenden müssen sich erst einmal selbst ins Lot bringen und ein paar Fragen klären. Sehe ich richtig? Schwankt vielleicht der Boden? Aber keine Angst! Der beim Hingucken ausgelöste Schwindel ist rein virtueller Natur. Auf dem Spiel mit der Wahrnehmung basiert der Erlebnisfaktor des Raumkunstwerks. Zugleich drängt sich die Frage auf, ob die strauchelnden Gestänge trotz des formalistischen Ansatzes eine Anspielung auf unsere Gegenwart darstellen. Schließlich hören wir in unseren krisengeschüttelten Tagen ständig von Kipp-Punkten und Gewissheiten, die ins Wanken geraten.

Am Ende folgt, was ststs da inszeniert, der Dramaturgie eines Thrillers mit offenem Ausgang. So gefährlich sich die Regale auch senken, so fest stehen sie doch. Wie bei einem fotografischen Schnappschuss ist das Ganze in der Bewegung des ewigen Falls eingefroren. Kommt die Katastrophe noch? Oder ist der Kippmoment zum Dauerzustand geworden?

Kippmomente Städtische Galerie Ostfildern, bis 27. Juni. Di, Do 15-19, Sa 10-12, So 15-18 Uhr.

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Erstellt:
9. Mai 2023, 11:30 Uhr

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