2022 werden neun Haltestellen umgebaut

Die Stadt Backnang hinkt bei der Barrierefreiheit im ÖPNV den Vorgaben meilenweit hinterher. Von 30 Bushaltestellen erfüllen bisher nur vier die Anforderungen des Personenbeförderungsgesetzes. Bis Ende 2025 werden 1,6 Millionen Euro investiert.

So wie in der Gerberstraße sollte es überall im Stadtgebiet sein: Die Busfahrgäste können nahezu ebenerdig einsteigen. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

So wie in der Gerberstraße sollte es überall im Stadtgebiet sein: Die Busfahrgäste können nahezu ebenerdig einsteigen. Foto: A. Becher

Von Matthias Nothstein

BACKNANG. Im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) sollte es eigentlich keine Barrieren für Menschen mit Handicaps oder Senioren oder Familien mit Kinderwagen geben. Mit der Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes wurde dieses wichtige gesellschaftspolitische Ziel noch mehr in den Mittelpunkt gerückt. Das hehre Ziel lautet, für die Nutzer des ÖPNV bis 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen. Der Leiter des Backnanger Stadtplanungsamts, Tobias Großmann, musste nun in seinem Bericht zum Planungs- und Umsetzungsstand einräumen, dass die Stadt Backnang bei diesem Thema meilenweit hinterherhinkt. In der jüngsten Sitzung des Verkehrsausschusses relativierte er zwar, dass fast keine Kommune dieses Ziel erreicht habe, aber er gestand auch ein: „Wir sind sehr weit hintendran.“ Von 30 Bushaltestellen im Stadtgebiet wurden erst vier barrierefrei umgebaut. Und das meist auch nur, weil an diesen Stellen ohnehin gebaut wurde. So etwa im Fall der Gerberstraße, der Talstraße oder der Aspacher Brücke.

Doch jetzt soll es flott vorangehen. Die Stadt hatte eine Priorisierungsliste aufgestellt. Diese umfasst bis 2025 jedes Jahr acht oder neun Umbauten. In der jüngsten Sitzung des Verkehrsausschusses des Gemeinderats erläuterte Großmann die Planung. Für das nächste Jahr sind neun Umbauten vorgesehen, wobei alleine vier im Bereich des Gesundheitszentrums liegen, jeweils zwei an der Stuttgarter und Weissacher Straße (stadtein- und -auswärts). Dazu kommen die Haltestellen am Seminar in der Aspacher Straße, ebenfalls in beiden Fahrtrichtungen, sowie drei Haltestellen am Schillerplatz (Engelkreuzung, Schillerschule, Bildungshaus).

Während die vier bereits realisierten Umbauten aus anderen Töpfen gefördert wurden, gibt es nun Zuschüsse von der Gemeindeverkehrsfinanzierung des Landes. Von den Kosten in Höhe von etwa 1,6 Millionen Euro würde nur rund die Hälfte an der Stadt selbst hängen bleiben.

Busse kommen nun doch nicht auf der Weissacher Straße zum Stehen.

Das größte Projekt im Jahr 2022 wird der Umbau der Haltestelle in der Weissacher Straße unmittelbar nach dem sogenannten Kawag-Kreisel. Vor Jahresfrist hatte die Verwaltung hierzu bereits Pläne präsentiert, bei denen die Haltestelle so konzipiert war, dass die Busse direkt nach dem Kreisel auf der Fahrbahn hätten anhalten müssen. Der Verkehr vom Kreisel in Richtung Weissacher Straße wäre vermutlich mehrmals am Tag zum Erliegen gekommen. Inzwischen wurden die Pläne geändert. „Wir haben gehirnt und geknobelt“, so Amtsleiter Großmann. Nun ist eine Art Bypass geplant. Das heißt: Die Busse können schon bei der Ausfahrt aus dem Kreisel auf einen parallelen Haltestreifen neben der Straße einfahren. In diesem Fall würde die sogenannte Fahrgeometrie passen. Was ist damit gemeint? Mit langen Fahrzeugen ist es nicht möglich, in eine Haltestelle einzufahren und den Bus ohne Abstand an den Rand zu manövrieren. Selbst wenn die Vorderräder am Bordstein entlangkratzen würden, so hätten bei einem 18 Meter langen Gelenkbus die mittleren und hinteren Türen einen großen Abstand zum Randstein.

Aus diesem Grund fallen auch im restlichen Stadtgebiet die meisten Parkbuchten weg. Die Lösung besteht meist darin, die Aufstellfläche der Passagiere in Richtung Fahrbahn zu verschieben und den Bus auf der Fahrbahn halten zu lassen.

Großmann erläuterte den Ausschussmitgliedern detailliert die Besonderheiten sowie die Vor- und Nachteile der jeweiligen Standorte. Bei der Bushaltestelle vor dem Seminar in der Aspacher Straße wird mit dem Umbau beispielsweise nur der Status quo zementiert. Seit einigen Jahren bereits fährt der Bus nicht mehr in die Haltestelle, sondern lässt die Schüler und sonstigen Fahrgäste auf der Straße stehend aus- und einsteigen. Dies hat in diesem Fall nicht nur mit der geschilderten Fahrgeometrie zu tun – mit der auch –, sondern in erster Linie mit der Sicherheit. Solange der Bus die Straße blockiert, kann kein Auto den Bus überholen und so zum Beispiel querende Kinder gefährden.

Auch am Schillerplatz 1, der sogenannten Engelkreuzung, wird der Gehweg in Richtung Fahrbahn verschoben und die Straßenbreite auf sechs Meter reduziert. Das hat den Vorteil, dass vor der jüngst eröffneten Kaffeerösterei auch eine Außenbewirtschaftung ermöglicht werden kann. Wenige Meter weiter auf Höhe der Schillerschule beziehungsweise in der Gegenrichtung vor dem Bildungshaus das gleiche Spiel. Auch dort wird die Fahrbahn auf sechs Meter verengt. Dies hätte laut Großmann wiederum den Charme, dass dort ein Wartehäuschen gebaut werden könnte. „Das wäre eine runde Sache an der sehr frequentierten Stelle.“

Die meisten Stadträte signalisierten Zustimmung. Willy Härtner (Grüne) etwa lobte in Bezug auf die Barrierefreiheit die Verwaltung: „Sie sind auf einem Superweg.“ Und schränkte stante pede ein, „wenn auch viel zu spät“. Und Lutz-Dietrich Schweizer (CIB) sagte: „Das ist ganz wichtig, dass wir auf diesem Gebiet deutlich vorankommen, schließlich wünschen wir uns immer, dass viele Menschen den ÖPNV nutzen und das Klima schonen.“ Doch auch der CIB-Rat war nicht mit allem zufrieden. So hatte die Schilderung Großmanns bei ihm den Eindruck hinterlassen, in der Weissacher Straße würden zwei Busse hintereinander halten können. Und weil der zweite den Zebrastreifen blockieren würde, soll der jedesmal ganz nach vorne fahren, wenn dort kein anderes Fahrzeug steht. Nun erklärte Schweizer, dass gerade seh- oder gehbeeinträchtigte Menschen sich darauf verlassen müssen können, wo ihr Bus hält und abfährt. „Es geht nicht, dass ein Gehandicapter hinten wartet und der Bus vorne hält und abfährt. Dann muss der Bus lieber den Zebrastreifen versperren.“

Kritik kam auch von Steffen Siggi Degler (AfD) und Pia Täpsi-Kleinpeter (SPD). Degler monierte, dass es jetzt schon überall in der Stadt Stau gebe, und nun würden künftig auch noch die Busse auf der Straße stehend die Fahrgäste ein- und aussteigen lassen. Ähnlich kritisch sah dies Täpsi-Kleinpeter. Sie prognostizierte „großen Unmut“ bei der Bevölkerung, wenn die Busse künftig etwa an jeder Haltestelle in der Sulzbacher Straße auf der Straße stehen bleiben und die übrigen Verkehrsteilnehmer nie die Chance hätten, den Bus überholen zu können.

Ein kurzes verbales Scharmützel ereignete sich zwischen Karl Scheib (BfB) und Willy Härtner. Scheibs Formulierung, bei Rollstuhlfahrern würde es sich um „Edelbehinderte“ handeln, ließ Härtner den Kamm schwellen, „da bekomm ich die Krätze“. Er beantragte, der Ausschuss möge sich einmal zwei Rollstühle ausleihen und per Selbstversuch den städtischen ÖPNV erkunden. Scheib indes versuchte klarzustellen, dass er erstens den Ausdruck sehr wohl verwenden dürfe, weil er Sonderpädagogik für Körperbehinderte studiert und viel Einblick in diese Materie habe. Und er konkretisierte: „Ich wollte nur sagen, dass die Barrierefreiheit ganz wichtig ist für unsere Senioren, weniger für Menschen mit Kinderwagen oder Rollstuhlfahrer.“ Juliana Eusebi (Grüne), die selbst im Rollstuhl sitzt, ging auf den Zwist ihrer Kollegen nicht ein, sondern erkundigte sich nach dem Stand der Arbeiten und den Finanzen. Stadtbaudezernent Stefan Setzer warb um Verständnis, dass erst vier Haltestellen barrierefrei ausgebaut sind. Zum einen erwähnte er gewisse Abhängigkeiten. So sei es etwa nicht möglich, alle Haltestellen in der Sulzbacher Straße in einem Jahr zu bauen, „da wäre die Straße ein Jahr lang gesperrt“. Zudem würden die Umbauten über 1,6 Millionen Euro kosten, „das gibt der Haushalt nicht her“. Und drittens würden die Haltestellen auch dann umgebaut, wenn es ohnehin Arbeiten im betreffenden Bereich geben würde. Erster Bürgermeister Siegfried Janocha würdigte ebenso die Priorisierung nach Dringlichkeit. „Ich finde das gut.“

Die künftigen Haltestellen sollen nach Entwürfen von Hellmut G. Bomm gestaltet werden.

Die künftigen Haltestellen sollen nach Entwürfen von Hellmut G. Bomm gestaltet werden.

Ausbauprogramm Haltestellen

Förderanträge für das Ausbauprogramm:

– 2022 neun Haltestellen für 480000 Euro

– 2023 neun Haltestellen für 391000 Euro

– 2024 acht Haltestellen für 389000 Euro

– 2025 acht Haltestellen für 410000 Euro

Eine barrierefreie Bushaltestelle verfügt über folgende Komponenten:

– Hochbord, in Backnang 21 Zentimeter.

– ausreichende Manövrierfläche für Roll-     stühle und Kinderwagen

– Leitstreifen im Boden, das sind taktile (spürbare) und kontrastreiche Elemente

– barrierefreier Zugang vom Wegenetz

– statische Fahrgastinformationen in an- gemessener Bauhöhe

– dynamische Fahrgastinformationen

– der barrierefreie Ein- und Ausstieg ist bei sämtlichen Bustypen gewährleistet

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Erstellt:
3. April 2021, 06:00 Uhr

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