Medikamentenmangel
ADHS-Kranke warten verzweifelt auf Arznei
Wie fühlt es sich an, wenn man Medikamente, auf die man angewiesen ist, nicht mehr bekommt? Drei Stuttgarterinnen erzählen, was der ADHS-Medikamentenmangel mit ihnen macht.
Von Luisa Rombach
„Wir haben ein Familienleben vor und nach dem Medikament“, sagt eine Stuttgarter Mutter, die nicht namentlich erwähnt werden möchte. Und meint damit, dass ihr Sohn, bei dem mit sechs Jahren ADHS diagnostiziert wurde, viel ruhiger wird, sobald das Medikament seine Wirkung entfaltet. „Das ist keine komplette Typveränderung, sondern er kann das Kind sein, das er wirklich ist“, fügt sie hinzu.
Ohne Medikament keine Struktur im Alltag
Dementsprechend große Auswirkungen hat es, wenn das benötigte Medikament nicht verfügbar ist. Das ist bei einigen der etablierten ADHS-Medikamente momentan der Fall. Auch der Sohn der Stuttgarterin ist betroffen: „Medikamentenmangel bringt die komplette Struktur des Kindes zum Einstürzen.“ Und die der Familie oft gleich mit dazu, denn eine fehlende Medikation bedeutet oft Konzentrationsschwierigkeiten in der Schule und die mühsame Suche nach verfügbaren Alternativen.
Da wird dann schon mal eine Apotheke nach der anderen abtelefoniert, um zu erfahren, ob das neue, vom Arzt verschriebene Medikament irgendwo erhältlich ist. Da es sich bei vielen der ADHS-Medikamente laut Gesetz um Betäubungsmittel handelt, dürfen die Apotheker nur exakt das Medikament herausgeben, das auf dem Rezept steht. Alles muss bis aufs kleinste Detail stimmen. Ist nicht genau das Medikament in der verschriebenen Dosis verfügbar, geht es für die Patienten zurück zum Arzt, um sich dort etwas anderes verschreiben zu lassen.
Die Medikamentenumstellung ist oft eine Herausforderung
Auch die Medikamentenumstellung an sich kann eine Herausforderung darstellen, wie Professorin Ulrike Holgrabe von der Universität Würzburg erklärt: „Ein ADHS-Patient ist auf ein spezielles Arzneimittel eingestellt, dessen Wirkung, aber auch Nebenwirkungen, er genau einschätzen kann.“ Hier müsse man auch zwischen Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten unterscheiden, betont Nicole Mauch, die als Apothekerin mit ADHS selbst betroffen ist. Bei einer Unverträglichkeit sei es oft schlicht nicht möglich, auf ein anderes Medikament umzusteigen.
Nicole Mauch engagiert sich gemeinsam mit Nicole Veinauer in der ADHS-Selbsthilfegruppe Stuttgart. Als Betroffene kennen auch sie das Problem Medikamentenmangel gut und verdeutlichen, dass auch Erwachsene mit ADHS auf die richtigen Medikamente angewiesen sind. „Ohne das richtige Medikament muss ich viel mehr Energie aufwenden, um aufmerksam zu sein“, erklärt Nicole Veinauer. Außerdem funktioniere die Emotionsregulation nicht so gut und sie sei nicht so leistungsfähig.
Doch woran liegt es, dass viele der ADHS-Medikamente momentan nur schwer oder gar nicht erhältlich sind? Nicole Mauch betont, dass es dafür nicht den einen Grund gibt: „Durch die Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem gibt es zum Beispiel keine Lagerbestände mehr.“ Kann dann ein Medikament kurzfristig nicht hergestellt werden, besteht kein Puffer, um die Versorgungslücke zu schließen.
Außerdem berichtet Professorin Ulrike Holzgrabe von Lieferschwierigkeiten bei Atomoxetin, das unter anderem bei ADHS verschrieben wird und seit mehreren Wochen nicht erhältlich ist: „Es soll Produktionsprobleme geben und zwar ist eine griechische Firma nicht in der Lage, Arzneimittel mit immer dem gleichen Wirkstoffgehalt herzustellen.“ Deshalb sei die Produktion momentan ausgesetzt, so die Professorin. Unklar, wann sich das wieder ändern könnte.
Problem für die Gesellschaft kaum sichtbar
Auf baldige Abhilfe können die betroffenen Menschen also kaum hoffen. „Die Folgen dieses Problems sind für die Gesellschaft nicht sofort sichtbar“, sagt Nicole Mauch. Wenn eine Person mit ADHS ein paar Monate lang nicht behandelt würde, sei das ein großer Stress für die betroffene Person. Gesellschaftliche Brisanz habe das Thema aber nicht, so die 50-jährige Apothekerin, die ihre Diagnose selbst erst im Frühjahr bekam.
„Es gibt kein Bewusstsein dafür, wie einschränkend ADHS im Alltag ist“, sagt Nicole Veinauer über die öffentliche Wahrnehmung. Es scheint, als gelte Ähnliches für die im öffentlichen Diskurs kaum stattfindende Debatte zum Thema Medikamentenmangel. Und so stellen die Lieferschwierigkeiten bis auf weiteres die Leben der betroffnen Menschen auf den Kopf.
ADHS
DefinitionHinter ADHS versteckt sich die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Davon betroffene Menschen haben oft Probleme, sich zu konzentrieren oder still zu sitzen. Laut Bundesgesundheitsministerium haben zwischen zwei und sechs Prozent der Kinder und Jugendliche ADHS. Bei Erwachsenen sind die Symptome meist weniger offensichtlich. Trotzdem werden besonders Frauen oft erst im Erwachsenenalter diagnostiziert.
UnterstützungInzwischen gibt es viele Selbsthilfegruppen für Menschen mit ADHS, sowohl für Kinder und Jugendliche, als auch für Erwachsene. In Stuttgart gibt es beispielsweise die ADHS-Selbsthilfe, die verschiedene Gruppen anbietet, etwa auch für Angehörige von Betroffenen. Mehr Infos gibt es online unter https://adhs-selbsthilfe-stuttgart.de/