Ärzte und Patienten im Rems-Murr-Kreis leiden unter Bürokratie
Formulare ausfüllen, Statistiken erheben, Zahlen erfassen: Der Arztberuf wird seit Jahren immer stärker reglementiert. Die Folgen bekommen auch die Patientinnen und Patienten im Rems-Murr-Kreis deutlich zu spüren.
Von Melanie Maier
Rems-Murr. Für ihre Behandlung muss Annegret Kuttruf einiges auf sich nehmen. Die 68-Jährige aus Cottenweiler ist Krebspatientin. Regulär behandelt wird sie in der Ambulanz der Rems-Murr-Kliniken in Winnenden. Doch ihre Hausärztin kann sie nicht einfach dorthin überweisen, denn das sieht das medizinische Regelwerk nicht vor. Annegret Kuttruf erhält von ihr nur eine Überweisung zur onkologischen Facharztpraxis in Schorndorf. Von dort wird sie zur Ambulanz überstellt. „Das ist der Gang, den ich jedes Vierteljahr machen muss“, sagt Annegret Kuttruf. Warum der Umweg über den Facharzt nötig sein soll, kann sie nicht nachvollziehen. „Dort wurde ich noch nie behandelt. Und wenn ich die Beteiligten auf dieses Prozedere anspreche, zucken alle nur mit den Schultern. Man hat mir mitgeteilt, dass sich andere Patienten auch schon beschwert haben – ohne Erfolg.“
Hinzu kommt: Die Medikamente, die die Krebspatientin benötigt, darf ihre Hausärztin ihr nicht verschreiben. Die Ambulanz in Winnenden wiederum kann keine Heilmittel wie zum Beispiel Physiotherapie verordnen. „So beschäftige ich Ärzte und Praxispersonal mit ineffektiven und nicht nachvollziehbaren Abläufen“, verdeutlicht sie.
Das Problem mit den Überweisungen kennt die Backnanger Kinderärztin Sabina Delic-Bikic sehr gut. Wenn ein Kind, das sie behandelt, beispielsweise in die Hautklinik muss, kann auch sie zunächst nur eine Überweisung zur Facharztpraxis ausstellen. „Es gibt immer tausend Umwege“, klagt sie. Für die Eltern der jungen Patientinnen und Patienten stellen nicht nur die zusätzlichen Fahrtwege (inklusive der Kosten für Sprit und Parkplätze) sowie der zeitliche Mehraufwand eine Belastung dar. „Aufgrund des Fachkräftemangels sind die Wartezeiten in den Kliniken und Ambulanzen sowieso schon lang. So werden sie noch länger“, stellt Sabina Delic-Bikic fest.
Die Praxen müssen vieles genauestens dokumentieren
Für die Ärztinnen und Ärzte seien es aber nicht nur die Überweisungen, welche die Arbeit unnötig erschweren, sagt die Kinderärztin. „Es sind die Abrechnungen und die Statistiken, die am Ende des Tages zusätzliche zwei Stunden Arbeit kosten.“ Die Praxen müssen genau dokumentieren, wen sie behandeln, was sie verschreiben und wie viel Zeit sie aufgewendet haben. Ist ihr Tag einmal länger als zwölf Stunden, bedeutet das für Sabina Delic-Bikic sogar eine finanzielle Einbuße. „Ich darf rechtlich gesehen nicht länger als zwölf Stunden am Tag arbeiten. Alles, was darüber hinausgeht, mache ich kostenlos“, erklärt sie.
So lange zu arbeiten ist natürlich auch nicht in ihrem Sinne. Doch manchmal gehe es nicht anders, sagt sie. „Es gibt verrückte Zeiten, wenn ein Infekt umgeht und dann noch ein paar Familien mit erhöhtem Beratungsbedarf kommen – zum Beispiel weil das Kind in der Schule gemobbt wird oder das Baby nicht genug isst. Das klärt man nicht mal eben in fünf Minuten.“ Nach so einem Tag, sagt sie, sei das komplette Team erledigt. Doch die Dokumentation darf selbstredend auch dann nicht entfallen.
Die zunehmende Reglementierung und Bürokratisierung seines Berufs beklagt Jens Steinat schon seit Langem. Als Hausarzt in Oppenweiler bekommt der Vorsitzende der Ärzteschaft Backnang sie selbst täglich zu spüren. Auch für die Patienten, sagt er, können die Auswirkungen der Vorschriften – wie im Fall von Annegret Kuttruf – eine große Belastung darstellen, „aber wir Ärzte müssen uns an die zulassungsrechtlichen Formalitäten halten“.
Bei formal fehlerhaften Verordnungen drohen Ärzten Regressforderungen
Diese Formalitäten betreffen auch die Verschreibung von Medikamenten und Heilmitteln. Werden sie nicht eingehalten, kann Ärzten eine Regressforderung drohen (siehe Infotext). Auch Jens Steinat hat eine solche erst vor Kurzem per Post erhalten, weil er zwei Impfstoffe formal nicht richtig bestellt hat. „Bei ihnen hat sich die Verordnung geändert, ohne dass wir etwas davon mitbekommen haben“, erklärt er. Weil er einen falschen Bestellweg verwendet hat, soll er nun 150 Euro pro Impfdosis bezahlen. „Wir sind vollkommen überreguliert. Ich verliere da so langsam die Lust“, sagt er. Wenn die Entwicklung so weitergehe, werde er einige kompliziert geregelte Impfstoffe nur noch auf Privatrezept ausstellen, so der Hausarzt. „Die Verkomplizierung von Vorgängen führt zu Fehlern und diese wiederum zu Frust bei den Ärzten. Am Ende ist der Leidtragende der Patient.“ Etwa wenn die Kosten für Impfstoffe, die normalerweise von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt werden, plötzlich selbst getragen werden müssen.
Denn die Behandlung von Privatpatienten ist für Ärzte viel einfacher. Eine fachärztliche Überweisung brauchen Selbstzahler beispielsweise nicht. Außerdem müssen sich Privatpatienten im Gegensatz zu den gesetzlich Versicherten selbst um die Abrechnung von Heilmitteln und Medikamenten kümmern – was auch bedeutet, dass diese keiner Budgetierung unterliegen.
Für die gesetzlich versicherten Patienten haben Ärzte nur ein gewisses Kontingent zur Verfügung. Zudem gibt es Zielvereinbarungen bezüglich der anteiligen Verordnung bestimmter Medikamentenwirkstoffklassen. Ein Medikament kann also nicht beliebig oft verordnet werden. Eine Praxis, von der Jens Steinat wenig angetan ist. „Wenn ich ein Medikament verschreibe, dann mache ich das an der medizinischen Notwendigkeit fest und nicht daran, wie viele Rezepte ich davon noch ausstellen kann.“ Ein Klempner würde ja auch nicht beim 101. Rohrbruch aufhören zu arbeiten, nur weil er schon 100 repariert hat, vergleicht er.
Die Budgetierung aufheben und die Regresse abschaffen
Jens Steinat würde es deshalb begrüßen, wenn die Budgetierung aufgehoben würde. „Im Endeffekt fände ich es ehrlicher, wenn die Regierung festlegen würde, welche Wirkstoffe bezahlt werden und welche nicht. Aber das ist natürlich nicht im Sinne der Pharmaindustrie“, sagt er. Könnte er das System von einem Tag auf den anderen ändern, würde er außerdem die Regresse abschaffen. „Studien haben gezeigt, dass es günstiger wäre, das zu lassen, weil durch die Prüfung so viele Verwaltungsgelder verschwendet werden“, führt er aus.
Auch die vielen statistischen Erhebungen würde er streichen. Sie hält er für völlig unsinnig. „Das alles zu machen kostet nichts, würde aber vieles vereinfachen“, betont er. Auch die Kinderärztin Sabina Delic-Bikic würde sich eine Vereinfachung wünschen, zum Beispiel bei der Abrechnung. Allein bei den Impfstoffen, sagt sie, gebe es mehr als 300 verschiedene Abrechnungsziffern.
Solche Vorschriften zu verändern, fände Annegret Kuttruf ebenfalls sehr sinnvoll. „Vielleicht ergeben die ja irgendwo einen Sinn, aber für mich ist das alles komplett uneinsichtig“, sagt sie. Glücklicherweise sei sie noch fit und könne selbst mit dem Auto von Cottenweiler nach Schorndorf fahren, um ihre Überweisung vom Facharzt zu der Ambulanz abzuholen. Für andere erkrankte Menschen, insbesondere für Ältere, seien die Hürden sicherlich noch viel größer. „Wir leben nach wie vor mit einer guten medizinischen Versorgung in Deutschland. Und ich werde sehr gut behandelt, wofür ich dankbar bin“, sagt sie. „Aber wenn man ein bisschen Bürokratie abschaffen würde, dann würde sich doch einiges verbessern.“
Foto: privatRegress Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) schließt mit den Apothekern und Ärzten Vereinbarungen über den angemessenen Einsatz von Arzneimitteln und deren Wirtschaftlichkeit ab. Wird gegen diese Vereinbarungen verstoßen und werden unnötige oder zu teure Arzneimittel verordnet, kann ein Regress drohen. Die Leistungserbringer müssen dann die Kosten für die betreffenden Arzneimittel zurückzahlen.
Kritik Drohende Regresse verunsichern die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und verschrecken den Nachwuchs, heißt es oft vonseiten der Ärzteschaft. Viele fordern eine politische Lösung des Problems. Denn Arzneimittelregresse können für sie ein existenzgefährdendes Risiko darstellen.