Innenexperte über Antisemitismus

„Alles Böse wird auf Israel und damit auch auf das Jüdische projiziert“

Oliver Hildenbrand, Innenexperte der Grünen im Landtag, sieht hinter der Dämonisierung Israels massiven Judenhass und warnt vor der „Tiktokisierung des Islamismus“.

Oliver Hildenbrand: „Solidarität mit Israel heißt nicht Empathielosigkeit mit dem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung.“

© Lichtgut/Christoph Schmidt

Oliver Hildenbrand: „Solidarität mit Israel heißt nicht Empathielosigkeit mit dem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung.“

Von Franz Feyder

Ein Jahr nach dem Überfall der terroristischen Hamas auf Israel protestieren Gegner und Unterstützer Israels auf deutschen Straßen. Der Grünen-Innenexperte Oliver Hildenbrand spricht über Terrorismus und Antisemitismus.

Herr Hildenbrand, wie haben Sie die Proteste auf den Straßen zum Jahrestag des Überfalls auf Israel erlebt?

Der 7. Oktober 2023 war der mörderischste Tag für Jüdinnen und Juden seit der Shoah. Seit diesem Tag ist für Israel und Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt nichts mehr wie zuvor. Ich bin entsetzt über den sprunghaften Anstieg antisemitischer Vorfälle. Und ich bin enttäuscht, wie sehr die Empathie und Solidarität mit Israel im vergangenen Jahr zurückgegangen ist.

Israelische Soldaten töten auch im Gaza-Streifen…

Krieg bedeutet immer schreckliches Leid. Solidarität mit Israel heißt nicht Empathielosigkeit mit dem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Es ist das zynische Kalkül der Hamas, Unschuldige als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Dieses Kalkül geht auf, wenn Israel vom Opfer zum Täter gemacht wird. Israel kämpft um seine Existenz – gegen die Hamas, gegen die Hisbollah, gegen die Huthi, gegen den Iran. Wir dürfen die Realität dieser Bedrohungen nicht ausblenden und keine Täter-Opfer-Umkehr zulassen.

Was ist denn klar in diesem Konflikt?

Klar ist: Israel wurde auf barbarische Weise angegriffen. Israel hat nicht nur das Recht sich zu verteidigen, sondern muss sich gegen viele Feinde in der direkten Nachbarschaft zur Wehr setzen. Wer im Nahen Osten Frieden möchte – und ich möchte ihn – der muss ganz klar sagen: Der Krieg kann morgen enden, wenn heute die Hamas, die Hisbollah, die Huthi, der Iran ihre Angriffe einstellen, die Geiseln endlich freilassen und das Existenzrecht Israels anerkennen.

Es entsteht bei den Protesten der Eindruck, dass nicht die Art Israels, Krieg zu führen, kritisiert wird, sondern Antisemitismus ausgelebt wird.

Wo Terror relativiert, Judenhass propagiert und Israel dämonisiert wird, zeigt sich Antisemitismus ganz unverhohlen. Der israelbezogene Antisemitismus ist ein Versuch, antisemitische Verschwörungsnarrative hinter der sogenannten „Israelkritik“ zu verstecken. Es ist sehr beunruhigend, dass es Israelhassern und Antisemiten leider immer wieder gelingt, Menschen dazu zu bringen, das Schlimmste über Israel zu glauben.

Sie sind nicht nur Politiker, sondern auch Psychologe. Wie erklären Sie sich, dass sich Antisemitismus so zeigt?

Antisemitismus ist eine Verschwörungsideologie. Was wir dabei beobachten können, ist eine Mischung aus Projektion und Wahn. Alles Böse, alles Schlechte wird auf Israel und damit auch auf das Jüdische projiziert. Wer gegen das Böse kämpft, fühlt sich im Recht, fühlt sich auf der Seite des Guten. Diese wahnhafte Realitätsverkennung gipfelt in der antisemitischen Überzeugung, dass die Juden an allem schuld seien.

Welche Gefahr geht in diesem Zusammenhang vom politischen Islam aus?

Wir müssen zwischen Islam und Islamismus unterscheiden. Der Islamismus ist eine hasserfüllte politische Ideologie, der Feind unserer freien und offenen Gesellschaft. Islamisten hassen alles, was unsere Gesellschaft ausmacht: Demokratie, Freiheit, Vielfalt. Der Kampf gegen Islamismus darf nicht gegen Musliminnen und Muslime, sondern muss mit ihnen geführt werden. Islamfeindlichkeit fördert Islamismus.

In welcher Weise?

Es spielt den Islamisten in die Hände, wenn wir Musliminnen und Muslime unter Generalverdacht stellen. Islamfeindliche Hassreden von rechtsextremer Seite sowie Erfahrungen von antimuslimischem Rassismus können ein Nährboden für islamistische Manipulation und Mobilisierung sein. Für mich ist klar: Der Islam gehört zu Deutschland, der Islamismus nicht. Wir dürfen uns nicht spalten lassen, sondern wir müssen unsere Demokratie gemeinsam gegen ihre Feinde verteidigen.

Alleine auf islamistisch motivierten Extremismus und Terrorismus zu reagieren, reicht nicht aus…

…eine große Rolle spielen für mich die sozialen Medien. Ich beobachte einen Social-Media-Terrorismus. Der Verfassungsschutz warnt nicht ohne Grund vor einer TikTokisierung des Islamismus. Hier werden Menschen durch Emotionalisierung, Polarisierung und Propaganda empfänglich gemacht für menschenverachtende Ideologien. Wir sind noch nicht gut genug aufgestellt, um das zu bekämpfen.

Das braucht mehr Geld für…

…unsere Sicherheitsbehörden. Wir müssen sie personell und technisch viel besser ausstatten, damit wir terroristische Online-Inhalte schnell finden und löschen können. Der Hass muss raus aus dem Netz.

So nehmen Sie soziale Medien ins Visier.

Radikalisierungsprozesse laufen in und mit sozialen Medien irrsinnig schnell ab. Da müssen wir sehr genau hinschauen und sehr wachsam sein. Neben der Kompetenz und Konsequenz unserer Sicherheitsbehörden brauchen wir aber ganz sicher die Kraft unserer gesamten Gesellschaft, um uns gemeinsam Hass und Gewalt entgegenzustellen.

…um was zu erreichen?

Der Kampf gegen Antisemitismus und der Einsatz für jüdisches Leben gehören zusammen. Ich habe am Neujahrsempfang der Israelitischen Religionsgemeinschaften im Neuen Schloss in Stuttgart teilgenommen. Dort haben sich viele junge Menschen präsentiert, die ganz selbstverständlich, selbstbewusst und stolz ihre jüdische Identität leben. Das hat mich besonders angesichts der schwierigen gesellschaftlichen Situation sehr beeindruckt und tief berührt. Jüdisches Leben gehört in die Mitte unserer Gesellschaft – sichtbar, lebendig und vielfältig.

Gegenseitiges Verständnis geht oft durch den Magen: Können jüdische Restaurants zur Normalität beitragen wie Pizza, Pasta und Döner?

Es gibt ein sehr schönes Projekt im Staatsweingut Weinsberg: Koscherer Wein – Made in Baden-Württemberg. Ein tolles israelisches Restaurant in der Hauptstätter Straße in Stuttgart hat leider vor einigen Monaten geschlossen. Aber Sie haben Recht: Solche Projekte und Orte sind sehr wichtig, weil sie dazu beitragen, die Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens mit allen Sinnen erfahrbar zu machen.

Juden, die sich als solche zu erkennen geben, sind auf Deutschlands Straßen nicht sicher.

Ich war vergangenen Dienstag bei der Solidaritätskundgebung auf dem Stuttgarter Marktplatz. Am Ende der Veranstaltung wurde den Menschen empfohlen, ihre Israelflaggen auf dem Nachhauseweg einzurollen und einzustecken – aus Sicherheitsgründen. Es ist beschämend, wenn eine Kippa auf dem Kopf, ein Davidstern um den Hals oder eine Israelflagge in der Hand eine Gefahr bedeuten kann. Wir müssen jüdisches Leben in Deutschland schützen und stärken.

Experte für Innenpolitik

Werdegang Oliver Hildenbrand wurde 1988 im Main-Tauber-Kreis geboren und wuchs in Freudenberg auf. Nach dem Abitur und einem Freiwilligen Sozialen Jahr in einer psychiatrischen Klinik studierte er Psychologie in Bamberg und Bonn. Das Studium schloss er mit dem Master ab.

Politik 2004 fand Hildenbrand zu den Grünen, deren Landesvorsitzender er von 2013 bis 2020 war. Bei der Landtagswahl 2021 gewann er mit 33,9 Prozent der Stimmen das Direktmandat des Wahlkreises Stuttgart III, der Botnang, Feuerbach, Münster, Mühlhausen, Stammheim, Weilimdorf und Zuffenhausen umfasst.

Themen Der Innenexperte steht dem für die Kontrolle des Verfassungsschutzes und der G-10-Überwachungen zuständigen Parlamentarischen Kontrollgremium vor.

Zum Artikel

Erstellt:
14. Oktober 2024, 07:17 Uhr
Aktualisiert:
14. Oktober 2024, 09:47 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen